Heft 
(2015) 100
Seite
18
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18 Fontane Blätter 100 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Epoche,  Der Deutsche Michel von Robert Sabatky. In Köppens Text wird Sabatkys Bild vom Erzähler, der»ein Gelehrter, ein Doktor, wenigstens ein Bulldoktor«(1. Nr.) sei, sowohl für die gebildeten Zuschauer wie auch die Massen mit peinlichster Genauigkeit glossiert. Die Arnold Ruge gewidme­te Karikatur stellt einen dicken im tiefsten Schlaf versunkenen Michel als riesengroßen Gefangenen dar, den Mund mit einem schweren Schloss dicht verschlossen, umgeben von seinen vielen Widersachern. Neben der mythologischen Anspielung auf Prometheus deuten die vielen(=38!) Schröpfwunden an seinem Leib darauf, dass er von den Fürsten Deutsch­lands ausgesaugt wird. Trotz absurden Vergleichs ist eine gewisse Heroi­sierung der Gestalt nicht zu übersehen, ein Moment, das in den masochis­tischen Nachahmungen aus der Krisenzeit der Revolution ab Herbst 1848 fehlte. In letzteren wird Michel oft als hässliches, überlebensgroßes Baby mit Schnuller im Mund dargestellt in einer der Variationen wird der Schnuller ›Politisches Bewußtsein‹ tituliert, während die eine Hand die ra­dikale  Königsberger Zeitung hält; auf dem Bettchen liegt die oppositionel­le  Rheinische Zeitung. Die Stränge, die das Riesenbaby festhalten, mahnen an das Bild der Wiege in der satirischen Poesie der Zeit, so etwa bei Adolf Glaßbrenner in  Bilder und Träume aus Wien(1836), wo es heißt:»Da wurde der Beamte zornig und band sie alle fest in der Wiege« oder an den be­rühmten Schlussvers von Herweghs  Wiegenlied(1841) :»Kein Kind läuft ohne Höschen 28 / Am freien Rhein umher/ Mein Deutschland, mein Dorn­röschen/ Schlaf, was willst Du mehr«. 29  Auffallend in der Sabatky-Serie ist die drastische Gestik von Michels Feinden, die an die bissige britische Tra­dition der politischen Karikatur seit Gilray erinnert. Hauptziel der brillant gezeichneten und farbenfrohen Polemik ist Metternich zusammen mit sei­nem Unterdrückungsheer von Polizei, Armee, Kirche und ›Justiz‹ im Ver­bund mit den europäischen Mächten, inkl. dem feuerspeienden Papst Gre­gor XVII. 30 Wie dessen Physiognomie dient Michels Zipfelmütze als Barometer sei­nes bzw. Deutschlands psychischen Zustands: Bis kurz vor der 1848er Re­volution ist sie einfach Schlafmütze 31 , die ihm der Staat oder seine Nach­barn über die Ohren ziehen sehr im Gegensatz zur Kopfbedeckung der französischen Marianne, die in der Tendenzgraphik nach der 1830er Revo­lution auftaucht. 32  Wer sollte vor 1848 auf die Idee kommen, dass ihr  bon­net rouge  (Jakobinermütze), Sinnbild der Republik und der kampfbereiten Bekenntnis zur Freiheit seit der großen französischen Revolution, 33 die gleiche Herkunft mit Michels Mütze teilt, nämlich die phrygische Mütze der befreiten römischen Sklaven? Die großen Ereignisse vom März 1848 und der Folgezeit dokumentierten die satirischen Graphiker im Deutschen Bund an Michels Gestalt und seiner Mütze. 34 Plötzlich wird diese doch zur phrygischen Kappe, steht aufrecht auf dem Kopf des Verjüngten, der es nun wagt, seinen Unterdrückern dreist entgegenzutreten, wie zahlreiche