»Das war ich?« Der deutsche Michel Sagarra 19 zeittypische Karikaturen in Flugblatt,-schrift und Presse belegen. So bot in einer Serie von Kupferstichen ein junger Jäger mit wehender Michelsmütze und gebleckten Zähnen König Friedrich Wilhelm IV. und dem ganzen höfischen System die furchtlose Stirn. 35 Oder im dreigeteilten Bild aus den Münchner Leuchtkugeln (1848) erwacht oben ein schöner Jüngling und blickt hoffnungsvoll in die aufgehende Sonne; doch in den folgenden zwei Bildern, sieht man, wie er »sich von seine Stellvertretern zu Frankfurt so tüchtig vertreten läßt, daß er endlich selbst zur breitesten Grundlage wird, auf welcher nicht nur alle von Gottesgnaden angestammten Fürsten bequem und unwankelbar feststehen können, sondern sogar noch Platz genug für einen neuen großmächtigen Kaiserthron mit einer großmächtigen Civilliste zu finden ist« – und wieder liegt der arme Michel mit Schlafmütze überm Ohr am Boden unter dem Gewicht all jener alten und neuen parasitären Wesen. 36 Bisher war Michel dem Leser provokativ als Inbegriff des Durchschnittsdeutschen zur Selbstbespiegelung dargeboten worden. In den ersten hoffnungsvollen Monaten nach der Märzrevolution schien es, als ob nun die bisher auf Irritation angelegte Figur den erfolgreich vollzogenen Erziehungsprozess des deutschen Volks zum politischen Selbstbewusstsein markiere. Aber leider nicht auf lange. Schon im Sommer 1848 wurde Michelin der satirischen Graphik wieder als Opfer präsentiert – der Fürsten, der europäischen Mächte, die sich an der ›deutschen Pastete‹ sattessen, 37 bzw. der eigenen Politiker des Frankfurter Parlaments. Die Xenophobie, die in den folgenden Dezennien an der Michelsgestalt abzulesen ist, erscheint als zentrales Motiv in einer Serie von witzig kommentierten Bildern in der Münchner Zeitschrift Leuchtkugeln. Hier wird der kindliche Michel jeweils von seinen ›erwachsenen‹ und gewiefteren Nachbarn gedemütigt: von John Bull, dem Franzosen ›Robert Macaire‹, Iwan(bzw. Hetmann) dem Russen und gar Jan aus den Niederlanden. So zwingt ein riesiger John Bull mit Stock den schmächtigen Schüler zum Studium der Geographie an der europäischen Tafel: Überall kommt das arme Deutschland zu kurz: Deutschland darf keine Marine haben, der Zugang zum Meer wird ihm durch die Holländer versperrt etc. 38 Ab Herbst weisen Graphiker und Dichter der Demokratischen Linken masochistisch Michel selber die Schuld an der verfehlten Revolution zu. Nach Vorbild der politischen Komödie von Robert Prutz, Die politische Wochenstube (1845), wird Michel als Mann der dicken Germania präsentiert, die das deutsche Reich entweder nicht gebären kann oder als Totgeburt zur Welt bringt. Oder er steht peinlich abseits als impotenter gehörnter Ehemann. Im ›Reichsinsiegel‹ liegt Baby Michel auf dem Schoß der Mutter Germania, die ihn tüchtig auf den nackten Hintern klopft. 39 Eine bis heute immer wieder reproduzierte Graphik aus dem Stuttgarter Eulenspiegel von 1849 fasst die melancholische Geschichte des deutschen Revolutionsjahrs 1848 zusammen: Drei Michelsköpfe stehen
Heft
(2015) 100
Seite
19
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten