20 Fontane Blätter 100 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte nebeneinander: Frühjahr(aggressiver Recke mit phrygischer Kappe und Kokarde)/ Sommer(passiver Bürger mit glanzlosen Augen und Mützenspitze nach unten)/ Spätjahr(Dummerjan mit Schlafmütze überm Ohr). 40 Eine Fülle von höchst diversen Texten ab Herbst 1848 nahmen Stellung zum katastrophischen Ausgang der in der Revolution gestellten Hoffnungen, unter anderem manch(recht langwierige) epische Dichtung. 41 Auch die Gegenstimmen meldeten sich zu Wort. In Karlsruhe erschien anonym 1849 sogar eine endlose Faustdichtung von der Feder des der Reaktion ergebenen Priesters Sebastian Brunner: Mephistopheles als Volksmann und Lehrer der Wühlologie und Michelhetzerei. In anarchistischen Knittelversen. Eine vereinzelte, recht originelle Stimme war die Louise Dittmars (1810–1884), den Zeitgenossen als couragierte und konsequente Feministin bekannt, Verfasserin gewitzter gesellschaftskritischer Texte wie Vier Zeitfragen(Offenbach a.M. 1847), betitelt in Anlehnung an Johann Jakobys erfolgreicher Flugschrift gleichen Namens, und Das Wesen der Ehe. Nebst einigen Aufsätzen über die sociale Reform der Frauen (Mannheim 1849). In ihrem Brutus Michel verspottete sie die Männer, die sich zu Beginn mit großen Worten abspeisen ließen, in der Tat aber so kläglich versagten: Man rief zur Tat: Auf, auf, zum Kampfe deutsche Mannen! Auf, auf, zum Kampfe zur Bundesschlacht! Wer ist, fragt sich die Dichterin zum Schluss, das eigentliche starke Geschlecht: O deutscher Michel, deutsches Blut, Wie liebst du doch die Kinderruth’! 42 Das Verschwinden der Michelsfigur als politisches ›Barometer‹ aus den Medien in den 1850er Jahren ist nicht nur der verschärften Zensur, sondern auch der politischen Ernüchterung jener bürgerlichen Kreise zuzuschreiben, bei denen die Michelsatire gediehen war. Nun fristete er sein Dasein als kannegießerischer Kleinbürger oder diente wie früher als Redefloskel in der Bedeutung vom einfältigen Menschen. Im Hinblick auf die zukünftige Aufwertung von Michel zu Michael nach 1870 sind hier zwei Zeitromane von Interesse. Michel. Geschichte eines Deutschen unserer Zeit (Prag und Leipzig 1858) vom ehemaligen Oppositionellen Johannes Scherr, Autor von Teutsches Heldengedicht in sechs Klageliedern Oder des armen Michels Lebenslauf(anon. Winterthur 1843) ist eine Art Bildungsroman vom braven jungen Deutschen der neuen Zeit; er mag Gustav Freytags Anton Wohlfart in Soll und Haben (1855) manchen Zug verdankt haben; wie dieser erlebte Scherrs Roman einen großen Publikumserfolg. 43 Gleich zu
Heft
(2015) 100
Seite
20
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