Heft 
(2015) 100
Seite
21
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»Das war ich?« Der deutsche Michel  Sagarra 21 Anfang des Textes wird der Name Gegenstand eines kleines Streits zwischen den Eltern. Die Mutter will ihn Siegfried nennen,»de[n] herrlichste[n] aller Helden unsrer alten Sagenwelt«; der Vater besteht jedoch auf Michael, weil der Name»stark, gewaltig, riesig mächtig« bedeute. Er habe die Hoffnung, dass ihr Sohn eine Zeit erleben werde, wo jeder Deutsche stolz sein würde»ein deutscher Michel zu heißen«. Ebenfalls von Interesse im hiesigen Kontext ist Albert Emil Brachvogels vierbändiger Roman:  Michael. Historischer Roman, der 1868 in Otto Wigands populärer Leipziger Romanzeitung  erschien. Ebenfalls einen»braven« aber be­schränkten Charakter zeigt der Typus vom deutschen Michel bei Fritz ­Reuter und Wilhelm Raabe in dieser Epoche. Eine selten radikale Stimme dieser Zwischenepoche war der Zeitzeuge, Frankfurter Heimat- und Freiheitsdichter, Journalist und Editor Friedrich Stoltze(1816–1891). Die historische Bedeutung der angehenden Bismarck­zeit und der von diesem inszenierten Kriege entging dem Herausgeber der  Frankfurter Laterne  nicht, deren mutvolle Graphiken Stolzens jugend­licher Begegnung mit Ludwig Börne manches verdankten. In den bissigen Karikaturen seiner Wochenschrift(1360 Ausgaben bis 1893) kann man die Evolution der preußischen Kleindeutschlandpolitik unter dessen neuem Ministerpräsidenten Otto von Bismarck gut verfolgen. Zahlreiche Karika­turen bieten zwar einen soliden Muskelmenschen Michel, ob als Bundes­staaten, Schleswig-Holstein oder einfacher deutscher Bundesbürger, wel­che alle aber die schwere Last der preußischen Militärmacht und Bismarck bzw. der feindlichen Nachbarn auf den Schultern zu tragen haben. 44 Gleich nach der Reichsgründung wurde Michel im sog. Kulturkampf von Bismarcks nationalliberalen Partnern im Reichstag und in den Medien als Sprecher ›des freien deutschen Geistes‹ gegen die Machtansprüche der römischen Kirche in Beschlag genommen. 45  Im Jahr 1874, als die preußische Gesetzgebung eine scharfe antikatholische Wendung nahm und infolge deren Widerstands Tausende von Geistlichen und gar mancher Erzbischof im Gefängnis bzw. Hausarrest saßen, erschien die seinerzeit notorische Anthologie  Gegen Rom.  Zeitstimmen deutscher Dichter, das Werk zahlrei­cher Dichter aus dem Bekanntenkreis Theodor Fontanes. 46 Hier wurden ›michelverwandte‹ Geister aus der neu zu erschaffenden Nationalmytholo­gie wie Martin Luther und Ulrich von Hutten aufgerufen, um den moder­nen Dunkelmännern von Papst und»jesuitischen Rankünen« Einhalt zu gebieten. In mühsamen Versen aus seinen Zeitbrocken  rief hier ein gewisser C. Braun Michel als Bundesgenossen im Kampf gegen ›die Ultramonta­nen‹ 47 herbei: Kamen vorzeiten nur leis wie auf Besen geritten die Hexen Rückt mit Kanonen jetzt ausdonnernd der Ultramontan. []