Heft 
(2015) 100
Seite
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»Das war ich?« Der deutsche Michel  Sagarra 23 Wilhelm II. entworfene Skizze von sich als gepanzertem Ritter mit Schwert mit der Inschrift:»Der deutsche Michel als Friedenshüter«. 52  Die pathetische Geste der Figur und das stilisierte jugendliche Gesicht haben etwas Rührendes, als sei dieses so unzeitgemäße Selbstbildnis des Staatsoberhaupts in eine Reihe zu stellen mit den Wunschträumen des ar­men Michels. Dass sich Wilhelm II. in der Rolle eines Michel/Michael ge­fiel, wurde an einem weiteren von ihm entworfenen und von Hermann Knackfuß ausgeführten Bild 53  ersichtlich: Hier steht Michel mit Schwert in der Rechten auf einsamer Bergeshöhe und deutet auf die friedliche Landschaft, hinter der jedoch der drohende Krieg zu sehen ist. Hier wurde wie in einer später notorisch gewordenen Rede Wilhelms wie in den popu­lären deutsch-völkischen Texten der Zeit für passende Feindbilder reich­lich gesorgt. Im ersten Friedenshüterbild waren es gefallene Teufel, wie sie Erzengel Michael einmal aus dem Himmel vertrieben hatte, in der kaiserli­chen Rede vor Abfahrt nach Jerusalem waren es die»Tiere«, welche die Wurzel der»Reichseiche[] benagen wollen« und die es auszurotten gelte: »Ich hoffe dann das Bild zu sehen, daß der Baum sich herrlich entwi­ckelt, und vor ihm steht der deutsche Michel, die Hand am Schwertknauf, den Blick nach außen, um ihn zu beschirmen. Sicher ist der Friede, der hinter dem Schild und unter dem Schwerte des deutschen Michels steht.« 54 Der gleichen merkwürdigen Verquickung von der Michelgestalt und dem ›Baum der deutschen Einheit‹ begegnet man im vierstrophigen Ge­dicht: Michel wach auf!, das zu Beginn des neuen Jahrhunderts im Alldeut­schen Liederbuch wieder abgedruckt wurde. 55 In der gehässigen Tagespolitik der neunziger Jahre wurde Michel von den verschiedensten parteipolitischen und ideologischen Richtungen im Dienst der Massenbeeinflussung instrumentalisiert. So fand die anti-jüdi­sche Politik der Konservativen Partei im sog. Tivoli Programm von 1892 ei­nen Niederschlag in drastisch-skurrilen Michelgraphiken, wie der vom fa­natischen Antisemiten Max Bewer. 56  Prominente Antisemiten wie Hermann Ahlwardt steuerten in Flugschriften und-blättern das Ihrige bei, so etwa in seinem  Wach auf, deutscher Michel: Sensationelle Enthüllungen. In einer 1895 erscheinenden Flugschrift  Ewiger Jude und deutscher Michel  erklärte ein gewisser Hermann Hoffmeister:»Die Spottfigur des deutschen Michel ist/ durch die Natur des ewigen Juden bedingt«. Und weiter: »Nur die[] deutsch-nationale Schwäche konnte dulden, daß vor allem israelitischen Hoffart(!)[] dem ewigen Juden die Spottgeburt des deut­schen Michel zur Seite steht.« 57 Bis zum Ausgang des ›langen‹ 19. Jahrhunderts am Ende des Weltkriegs blieb Michel seinem neuzeitlichen Charakter als ›teutschem‹ ­Kraft­protz treu und wurde im Krieg gelegentlich in Wort und Bild mit einem säku­la­risierten himmlischen Drachentöter Michael identisch(mit England in der Rolle des kosmischen Ungeheuers). Michels weitere ­Geschichte im