24 Fontane Blätter 100 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte 20. Jahrhundert gehört in einen anderen Kontext. Sein proteisches Wesen blieb ihm und – bis in die Jahre nach Mauerfall und(Wieder)vereinigung – sein Anderssein. Denn anders als beim Selbstbild der anderen europäischen Völker oder des Amerikaners»Onkel Sam« ist Michel fast immer in einer Doppelperspektive zu sehen, in der Fremdbestimmung:»wir sind, wie andere uns sehen«, und im Reflektieren auf sich selbst. Die Charakterzüge der anderen nationalen Selbstbilder sind ihnen inhärent; dagegen scheint Michel in seiner fast ein halbes Milennium währenden Geschichte einem steten Wandel unterworfen zu sein: vom Tölpel zum Philister, vom Opfer zu stolzem Jüngling, vom Kraftprotz zum verschmitzten Kerlchen. Gelegentlich seit dem 17. Jahrhundert und konsistent seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird Michel zum Sinnbild der Problematisierung der eigenen Geschichte durch die Deutschen, vielleicht sogar einer gewissen Wehrlosigkeit ihr gegenüber. Heute ist der deutsche Michel seit einer Generation in den Medien und auch anderswo nur noch gelegentlich anzutreffen. Wenn doch, so ist der Ton meist durch seinen vergnüglichen Humor gekennzeichnet. 58 Ein Musterbeispiel vom letzterem wäre das Bild vom Deutschen Handelsblatt kurz nach der deutschen Wiedervereinigung, als mancher Nachbarstaat gern und boshaft vom»Vierten Reich« murmelte und der Golfkrieg die internationale Welt bewegte: Deutschland wolle seine Verantwortung nicht wahrhaben. Das Bild zeigt US-Präsidenten Bush, wie er Michel ein paar Soldatenstiefel aushändigen will.»Danke, nein«, sagt Michel,»die sind mir jetzt zu groß«. 59 Ob durch die historischen Ereignisse der Zeit und das neue Kräftespiel in Europa die Deutschen in ihrer Geschichte sich nun endlich wohlfühlen? Wie dem auch sei, wieder aktuell – aber im besten Sinn – wird das verschmitzte Wort von Fontanes Dichterkollegen und Mirza Schaffy-Autor Friedrich von Bodenstedt, der am Vorabend der Reichsgründung in Zeitgedichte (1870) meinte: Einst war ich als deutscher Michel Ein Spott der ganzen Welt. Doch schweigt nun alles Gestichel, Denn ich ward ein berühmter Held. […] Vergebens mit seiner Sichel Späht nun der Tod umher Nach dem alten deutschen Michel Denn ich bin ich selbst nicht mehr. 60
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(2015) 100
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24
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