Heft 
(2015) 100
Seite
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Heimat bei Fontane und Joseph Roth  Chambers 31 Hinzu kam der Einfluss demographischen Wandels mit der Umsiedlung großer Bevölkerungsgruppen, als die agrarische Ökonomie Schritt für Schritt durch die Industriegesellschaft ersetzt wurde. Mitte des neunzehn­ten Jahrhunderts zielten die Dorfgeschichten von Karl Immermann, Bert­hold Auerbach oder Jeremias Gotthelf zum Teil daraufhin, traditionelle Werte und herkömmliche Sitten aufrechtzuerhalten, die in der modernen Wirklichkeit zu verschwinden drohten. Später, um die Jahrhundertwende, trieben Adolf Bartels und Friedrich Lienhard ein neo-romantisches Pro­gramm der»Heimatkunst« voran. Laut Bartels war dies ein Versuch, eine »nationale Gesundungsliteratur« zu etablieren, welche die Nation von den »verflachenden, schablonisierenden« Effekten der liberalen Bourgeoisie, des Internationalismus der Sozialdemokraten und der fin de siècle Groß­stadt-Dekadenz allgemein heilen sollte. 2 Die Nationalsozialisten beuteten diese»Heimatkunst«-Idee aus als Waffe gegen das, was Goebbels als »volksfremde Asphaltkultur« bezeichnete. 3 Damit meinte er das hochent­wickelte, kosmopolitische Kulturleben im Berlin der Weimarer Republik. Der Terminus»Heimat« war schon immer problematisch, aber seit die­ser Epoche, d.h. seit den 1930er Jahren, ist er durch die Assoziation mit der Nazi-Ideologie belastet. Seitdem wird er mit Umsicht, verzögernd, defensiv oder auch provokativ verwendet, auf jeden Fall reflektiert im Bewusstsein des Gewichts der Geschichte, das auf ihm liegt. 1989 führte der Mauerfall in Berlin zwangsläufig erneut zur Befragung des Begriffs von Seiten der Schriftsteller in beiden Teilen Deutschlands, aber besonders bei denjeni­gen im Osten, die ihre kulturelle Identität im Hinblick auf die Idee Heimat unter die Lupe nahmen. In anderen Ländern im deutschsprachigen Raum setzte die Befragung früher ein: in Österreich in den 1970er Jahren in den Anti-Idyllen von Thomas Bernhard sowie in den Werken der Grazer Grup­pe(Bauer, Frischmuth, Jonke, Handke, G. Roth, Kolleritsch und Eisendle), und in der Schweiz vornehmlich bei Max Frisch, der 1990 die Sammlung Die Schweiz als Heimat? Versuch über 50 Jahre publizierte. Ulrich Fülleborn hat als passende Überschrift für viele literarische Werke im zwanzigsten Jahrhundert»À la recherche de la patrie perdue auf der Suche nach der verlorenen Heimat« vorgeschlagen, 4 egal ob der Heimatverlust des Schriftstellers buchstäblich, im Exil, bestand, oder aber in innerer Entfremdung bzw. Emigration. Diese Beobachtung macht deutlich, dass die Idee Heimat immer ihr Gegenteil, nämlich die Fremde, impliziert. Wiederum ist der deutsche Ausdruck weniger spezifisch und mehrdeutiger als englische Äquivalente.»Die Fremde« kann Ausland(so­gar Exil) heißen, aber genauso kann es einen fremden, unbekannten Teil im eigenen Land bedeuten. Heimat als literarischer Topos bezieht sich in den meisten Fällen auf ein Sehnsuchtsobjekt entweder in der Vergangen­heit oder in der Zukunft, zumal auf etwas, was ausschlaggebend zur ­Konstruktion der Identität des Schriftstellers beigetragen hat, oder auf