Heft 
(2015) 100
Seite
32
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32 Fontane Blätter 100 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte etwas, was der Schriftsteller zu konstruieren versucht, um ein Gefühl der Stabilität und Zugehörigkeit zu erlangen. Im Folgenden werden diese zwei Aspekte von Heimat in den Fällen Theodor Fontane und Joseph Roth kom­parativ erörtert. Trotz der zeitlichen und geographischen Verschiedenheiten ihrer Le­bensdaten findet man zwischen Fontane und Roth zahlreiche frappierende Ähnlichkeiten in Bezug auf Biographie, schriftstellerischen Werdegang, Gesinnung und literarischen Stil. Fontane kam Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Preußen zur Welt, Roth wurde am Ende des Jahrhunderts, 1894, in Galizien, Kronland der österreichisch-ungarischen Doppelmonar­chie, geboren. Und damit wäre die jeweilige Heimat bzw. das jeweilige Va­terland genannt. Als sie starben, hatte in beiden Fällen ihre Heimat eine tiefgehende Wandlung durchgemacht. Fontane starb 1898 im Deutschen Reich, und im Falle Roth war das Habsburger Reich seiner Kindheit bei seinem Tod im Mai 1939 schon längst untergegangen und Galizien lag in Polen. Sie teilten das mitteleuropäische, existentiell verunsichernde Erleb­nis eines politisch fließenden, unberechenbar wandlungsfähigen Vaterlan­des. Ihre Geburtsorte weisen gleichermaßen Gemeinsamkeiten auf: Fonta­nes Neuruppin und Roths Brody waren beides kleine Provinzstädte in als rückständig geltenden Gegenden, in Monarchien, wo das Militär als Teil der kleinstädtischen Landschaft präsent war. Was den literarischen Werdegang betrifft, produzierten beide einen umfangreichen Korpus an journalistischen Texten, um sich als freie Schriftsteller finanziell über Wasser zu halten. Es handelt sich vor allem um Reportagen und Feuilletons, in denen ein subjektiver, oft ironischer Ton angeschlagen wird, um die allgemeingültigen und doch häufig wi­dersprüchlichen Seiten von symptomatischen Zeiterscheinungen sicht­bar zu machen. Diese charakteristische Doppelgesichtigkeit, diese Verbin­dung von Objektivität und Subjektivität, kommt in zwei Formulierungen von Roth klar zum Ausdruck. Von seinen Reportagen für die Frankfurter Zeitung behauptet er:»Ich zeichne das Gesicht der Zeit« 5 , während er im Hinblick auf seine französischen Reisereportagen, Die weißen Städte, die andere Seite hervorkehrt mit der Feststellung:»Ich kann nur erzählen, was in mir vorging, wie ich es erlebte.« 6 Beide Aussagen ließen sich auf Fonta­nes journalistische Arbeit übertragen und wären ebenfalls passend für den gemeinsamen geistigen und literarischen Vater und ihr Vorbild Hein­rich Heine, der sich ebenfalls mit glänzenden, humorvollen Feuilletons hervortat. Bei allem Interesse für das Typische und Symptomatische ihrer jeweiligen Zeit gelten Fontanes und Roths Neugierde und Beobachtungen vor allem dem Menschen. Das erkennt man zum Beispiel an Fontanes Lon­doner Theaterkritiken sowie an Roths Berliner Filmkritiken. Fontane wen­det sich gelegentlich von der Bühne ab ebenso wie sich Roth von der