Heft 
(2015) 100
Seite
33
Einzelbild herunterladen

Heimat bei Fontane und Joseph Roth  Chambers 33 Leinwand abwendet, um Überlegungen und Beobachtungen zur Eigen­art und zum Verhalten des Publikums zu äußern. Um ihren»anthropologischen Heißhunger«, wie es bei Grillparzer heißt 7 , zu stillen, wenden sie sich auch meist von der Natur ab. Bei Fontane heißt es 1852(bei einem Besuch im Badeort Brighton in Südengland):»Was einzig und allein dauernd dem Menschen genügt, ist nur immer wieder der Mensch. Nichts ermüdet schneller als die sogenannte schöne Natur.« 8 Bei Roth sieht es ähnlich aus. Die in seinen Romanen immer wiederkehrenden, unvergesslichen Schilderungen der weiten, sommerlichen Landschaften im Osten, mit ihren trillernden Lerchen und den mit quakenden Fröschen gefüllten Sümpfen, haben zeichenhaften Charakter und sind um der Men­schenschicksale willen da, die dargestellt werden. Die Natur um ihrer selbst willen war kein brennendes Thema, und das gleiche trifft bei beiden Schriftstellern für Theorie und Philosophie zu. Hans-Heinrich Reuter nannte Fontane»kolossal empirisch und ganz unphilosophisch« 9 , er»war kein ›theoretischer Kopf‹«. 10 Das Gleiche gilt für Roth, der einmal schrieb: »Im Roman hat nichts Abstraktes vorzukommen. Überlassen Sie das Tho­mas Mann.« 11 In den Romanen beider Autoren steht also der Mensch im Mittelpunkt, wobei Fragen nach der Formung der individuellen Identität und nach Möglichkeiten der Bewahrung humaner Werte angesichts der Unbeständigkeit im modernen Zeitalter und im menschlichen Leben schlechthin, zentral sind. Identitätsstiftend ist bei beiden in hohem Maße aber gleichzeitig kompliziert und problematisch die Heimat bzw. das Vaterland. Die Überlegungen zum Heimatverständnis Fontanes und Roths im fol­genden, vergleichenden Versuch beziehen sich auf Aspekte der Romane Der Stechlin und Radetzkymarsch sowie auf nicht-fiktionale Texte, Reisebe­richte über die jeweilige Heimat, nämlich Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg und Roths Juden auf Wanderschaft. Das Zitat, wel­ches am Anfang dieses Aufsatzes steht, weist aber auf eine dritte Heimat hin, und zwar die von Archibald Douglas, also Schottland, wie sie Fontane in seinem Gedicht Archibald Douglas konstruiert. Wo war genau genom­men dieser Douglas zu Hause? In Fontanes Fantasie, in Fontanes Vorstel­lungen und in der deutschen Literatur, in der deutschen Sprache. Und auf diesen Gedanken wird auch zurückzukommen sein. Das berühmte Ge­dicht, das von selbstverleugnender Treue und Liebe zur Heimat erzählt, entspringt keiner authentischen historischen Quelle. 12 Die Episode, in der König Jakob Douglas aus dem Exil erlöst, geht zum Teil auf eine deutsche poetische Quelle zurück, nämlich Graf Strachwitz Gedicht Das Herz von Douglas, welches Fontane sehr beeindruckte. Seine Ballade Archibald Douglas kann als Ausdruck von Fontanes Bewunderung für eine beding­ungslose Treue und Heimatliebe und Sehnsucht nach einer solchen