Heft 
(2015) 100
Seite
37
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Heimat bei Fontane und Joseph Roth  Chambers 37 aus dem Berliner Leben zum Ausdruck. Ihm ist klar geworden, dass er zu demselben Thema ein ganz anderes Buch geschrieben hätte, weil er es statt auf Häuser von kulturgeschichtlichem Interesse auf die Häuser, in denen bedeutende historische Personen gelebt hatten, abgesehen hätte. Unter historisch bedeutenden Personen versteht er in erster Linie Männer aus Militär und Adel. Der Ort wird erst interessant durch die Geschichte, mit der er verbunden ist. 26 Hinzufügend, dass Rodenberg den Geschmack sei­ner Leser gut eingeschätzt habe, bemerkt Fontane,»daß sich der Berliner, ja vielleicht der Großstädter überhaupt, für das außerhalb der historisch­politischen Sphäre Liegende mehr erwärmt als für seine staatlichen oder selbst militärischen Größen«. 27 Dieser Gedanke deckt sich mit der Wahl der Provinz und nicht der Großstadt als Hauptschauplatz seines von Histo­rischem durchtränkten politischen Romans. Radetzkymarsch könnte man gleichfalls als einen von Historischem durchtränkten politischen Roman bezeichnen, aber hier findet sich die To­pographie der Geschichte nicht wieder. Bei Roth handelt es sich in Hart­mut Scheibles Worten um eine»Flucht aus der Geschichte«. 28 Helmuth Nürnberger macht ebenfalls auf ahistorische Elemente im Erzählwerk auf­merksam 29 , und Ulrike Steierwald argumentiert in ihrer Monographie Lei­den an der Geschichte: Zur Geschichtsauffassung der Moderne in Texten Joseph Roths, dass»[d]ie Implikationen des Authentischen, die den Begrif­fen ›Leben‹, ›Gegenwart‹ und ›Geschichte‹ in den Realismuskonzeptionen des 19. Jahrhunderts eigen waren, für Roth nicht mehr gegeben[sind].« 30 In Radetzkymarsch gibt es keine historischen Orte, wie sie wiederholt im Stechlin auftauchen, sondern nur verwirrende pseudohistorische Orte in ästhetischer Form: das Gemälde des Helden von Solferino und das Musik­stück Der Radetzkymarsch unter dem Balkon und Kriegsmanöver als Er­satzschlachten, die Roth aus der verschwommenen Perspektive des alten Kaisers zeigt und die das Fehlen historischer Ereignisse symbolisieren. Der Erzähler selbst artikuliert von seiner Perspektive in den 1930er Jahren aus den Unterschied zwischen dem Verhältnis zur Geschichte vor und nach dem Ersten Weltkrieg:»Aber alles, was einmal vorhanden gewesen war, hatte seine Spuren hinterlassen, und man lebte dazumal von den Erinne­rungen, wie man heutzutage lebt von der Fähigkeit, schnell und nach­drücklich zu vergessen.« 31 Das deutet daraufhin, dass die Abkopplung von einem durch individuelle Erinnerung gespeisten geschichtlichen Bewusst­sein zur unbedingten Notwendigkeit wird, wenn man in der Zeit des Natio­nalsozialismus psychisch und physisch überleben will. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass, während Der Stechlin ein Zeitroman ist, bei dem die Geschichte eine wichtige Rolle spielt, Ra­detzkymarsch in der Tat ein historischer Roman ist. 1930–1932 geschrie­ben, spielt er in dem Zeitraum zwischen 1859 und 1916. Es handelt sich also um eine unmittelbare Rekreierung einer Epoche, die schon zur Geschichte