Heft 
(2015) 100
Seite
38
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38 Fontane Blätter 100 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte geworden ist. Roth schafft sie neu, um mittels der Geschichte einer fiktiven Familie den Untergang der Heimat besser zu verstehen und auch um deren positive Werte der Humanität, Bescheidenheit und Toleranz in einer Zeit der Brutalität, Arroganz und Intoleranz festzuhalten. In einem Vorwort zum Vorabdruck des Romans schreibt er: »Ein grausamer Wille der Geschichte hat mein altes Vaterland, die ös­terreich-ungarische Monarchie, zertrümmert. Ich habe es geliebt, dieses Vaterland, das mir erlaubte, ein Patriot und Weltbürger zugleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscher unter allen österreichischen Völkern. Ich habe die Tugenden und die Vorzüge dieses Vaterlandes geliebt, und ich liebe heute, da es verstorben und verloren ist, auch noch seine Fehler und seine Schwächen.« 32 Der italienische Germanist Claudio Magris prägte für die literarische Verklärung der Doppelmonarchie von österreichischen Schriftstellern wie Roth den Begriff des»Habsburger Mythos«, d.h. der Mythos einer»golde­nen Zeit der Sicherheit und Geborgenheit« 33 , und das trifft für die geschil­derten»Tugenden und Vorzüge« durchaus zu. Ich bin gefragt worden, ob man bei Fontane in ähnlicher Weise von einem Hohenzollernmythos spre­chen kann, und ich denke, in gewisser Hinsicht schon. Dieser Gedanke lie­ße sich zum Beispiel mit einer Fußnote in Fontanes Aufsatz Die Märker und die Berliner belegen. Dort heißt es: »Andre Könige haben meist etwas Abstraktes und sind bloße Träger des Königtums an sich. Die Hohenzollern aber sind in erster Reihe allemal Menschen und erst in zweiter Reihe Spezial- und Obermenschen mit Kö­nigspflichten. Ihre Persönlichkeit geben sie nicht auf. Deshalb ist denn auch alles voll Leben und Interesse, selbst bei solchen, die nicht allzu popu­lär waren, wie beispielsweise bei Friedrich Wilhelm IV.« 34 Diese Sicht deckt sich mit dem Bild des Kaisers Franz Joseph in Radetz­kymarsch. Im wunderbaren, gewagten 15. Kapitel stellt Roth mit liebevol­ler Ironie und psychologischer Feinfühligkeit den alten Mann als Privat­menschen und hohen Herrn dar, wobei die menschliche Seite durch die sinnliche Genauigkeit der Schilderung der kaiserlichen Ohrmuscheln und Nasenlöcher den Kaiser dem einfachen Bürger annähert und quasi gleich­setzt. 35 Das Vaterland, ob habsburgisch oder hohenzollernsch, besteht aus individuellen Menschen. Und deren Geschichten, wie Roth und Fontane sie literarisch vermitteln, gleichen eher Flickendecken, zusammengesetzt aus bunten ungleichen Stücken, als einem fließenden Strom im Dienst einer großen Idee nach Hegelschem Muster. Es sei hier eine biographische Zwischenbemerkung erlaubt. In Zusam­menhang mit Roths Werk ist schon oft bemerkt worden, dass Roths Vater­losigkeit sehr zu seinen Identitätsproblemen beigetragen habe, und dass man das ganze Werk gewissermaßen als Suche nach dem verlorenen Va­ter betrachten könne, wobei der Verlust des Vaterlands eine grausame,