Issue 
(2015) 100
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Heimat bei Fontane und Joseph Roth  Chambers 39 ­gesteigerte Wiederholung seines Vaterverlusts im Privatleben darstelle. Joseph Roth hat seinen Vater nie gekannt, weil er vor Josephs Geburt auf einer Geschäftsreise plötzlich geisteskrank wurde und nie wieder nach Hause kam. Dafür hatte Roth eine dominierende und auch übermäßig um ihn besorgte Mutter. Fontanes Vater war in seiner Kindheit im Familienle­ben zwar vorhanden, aber die strenge Mutter spielte die herrschende Rol­le, während der Vater eine eher schwankende, unstete Präsenz besaß, auf die wenig Verlass war. Beide Schriftsteller entstammten sozusagen matri­archalischen Verhältnissen, und es wäre bei beiden denkbar, dass das In­teresse an der fiktionalen Erschaffung eines Vaterlandes als Suche nach einer beständigen männlichen Instanz auszulegen wäre: Ferner, dass ihre gemeinsame Vorliebe für die Aristokratie und für das, was sie als vorbild­liche aristokratische Werte ansahen, mit demselben patriarchalischen Ge­danken zu tun hat, und zwar mit dem Bedürfnis nach einem Wir-Gefühl, welches auf einer stabilen patriarchalischen Hierarchie basiert. Zur Verdeutlichung des Heimatbegriffs beider Autoren sollen nun auch Texte aus ihren nicht-fiktionalen Werken gegenübergestellt werden. In den ausgewählten Auszügen aus Fontanes Wanderungen und Roths Juden auf Wanderschaft wird gegen Vorurteile und gegen Stereotypisierung der menschlichen Vielfalt angeschrieben. Hier schreiben keine Romantiker über eine idyllische Heimat, sondern Aufklärer, die vorgefasste Meinun­gen über ihre abgelegene Heimat abbauen wollen. In den Spreewald, ­Fontanes erstes märkisches Reisefeuilleton, das am 31. August 1859 in der Preußischen Zeitung erschien, fängt an: »Der Ruf einer alten Firma hat etwas Langlebiges und Unverwüstliches, er sei nun gut oder schlecht. Die österreichische Landwehr könnte noch so rasch marschieren, sie hieße doch ›langsam voran‹. Diese Unverwüstlich­keit eines Renommees hat auch unsere arme Spree zur Genüge an sich er­fahren müssen.[] Unter ihren Spöttern und Verächtern steht der Spree­Athener obenan. Vielleicht, daß er in sich ginge, wenn er sich entschließen könnte, öfter zu ›den Quellen und der Jugend seines Stromes‹ emporzustei­gen. Eine Reise in den Spreewald[][e]in einziger Sommertag genügt, um alte Vorurteile zu beseitigen.« 36 In seinem Bericht über den Spreewald, ein Gebiet nur ein paar Kilome­ter südöstlich von Berlin, fokussiert Fontane auf die ethnischen Minderhei­ten in der Bevölkerung der Gegend und auf die Landesprodukte und dies mit einer komisch-heroischen Beschreibung von Gemüsesorten wie sau­ren Gurken, Sellerie, Kartoffeln und Rüben. Dabei verwendet er in ironi­scher Abwandlung den Diskurs des wissbegierigen Reisenden, um den Wert von Dingen, die der kultivierte Großstädter gewöhnlich verachtet, hervorzukehren. Sich als enthusiastischer»Reiseführer« gebend, fügt er hinzu: