Heft 
(2015) 100
Seite
40
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40 Fontane Blätter 100 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte »Die Gelegenheit scheint mir günstig, überhaupt die Bemerkung zu ­machen, daß unsere verschrieene Mark ein wahres Eldorado für Fein­schmecker ist. Ich verweile nicht bei der mehligen, geplatzten Kartoffel, die in der ganzen Welt nur einmal in ihrer Vollendung vorkommt das ist auf den Sandbergen der Mark; ich will nicht ein überhebliches Lächeln durch die bloße Nennung eines so trivialen Namens hervorgerufen haben; aber da gibt es viel andere Dinge noch: Die Morchel, die Teltower Rübe, die Sel­lerie. Goethe, der so wenig von den Musen und Grazien in der Mark hielt, war über den Wert der Teltower Rübe mit Pastor Schmidt in Werneuchen durchaus einverstanden.« 37 Die wendischsprachige slawische Gemeinde stellt er nicht als maleri­sches wenn auch altmodisches Kuriosum dar, sondern er zeigt sie in ihrer menschlichen Vielfalt mit ihren universellen menschlichen Angelegenhei­ten und Sorgen wie Geburt, Tod und Gerichtsverfahren. 38 Der Ton im Vorwort zu Joseph Roths 1927 erschienener Aufsatzreihe Juden auf Wanderschaft ist freilich schärfer und polemischer. Sie ist gegen den grassierenden Antisemitismus in Deutschland und im westlichen Ös­terreich gerichtet, aber doch auch gleichzeitig an die»Ostjuden« selber aus Roths Heimat, die über ihren ihnen unbewussten Selbstwert und den Wert ihrer Traditionen aufgeklärt werden sollen. Bei der Verfassung dieser Sammlung kehrte Roth zu einem Teil seiner kulturellen Identität zurück, seiner Identität als Ostjude, dem er als junger Mann den Rücken gekehrt hatte, indem er versuchte, mit großem Erfolg, sich in das westliche Bil­dungsbürgertum in Wien und Berlin zu assimilieren. Das Aufkommen des Nationalsozialismus hatte ihn dazu bewogen, penetrante Fragen über das Wesen und den Ort der Zivilisation und des Barbarismus in Europa zu stel­len. Seine Schilderung der Gemeinde der Chassidischen Juden fängt iro­nisch an, indem er, wie Fontane oben, sie so zeigt wie aus der Perspektive eines Reisenden in exotischen Ländern: Sie»sind für den Westeuropäer ebenso ferne und rätselhaft wie etwa die Bewohner des Himalaja, die jetzt in Mode gekommen sind.« Aber»Man betrachtet die Juden, weil sie überall in unserer Mitte leben, als bereits ›erforscht.« 39 Im Weiteren berichtet Roth über verschiedene Aspekte des Alltagslebens in der Gemeinde. In diesen Texten über Fontanes Mark Brandenburg und Roths Welt des Ostjudentums handelt es sich keineswegs um die Heraufbeschwörung rückwärts gewandter Utopien. Es wird nicht einfach das gute alte Leben gelobt, wie es in ländlichen Städtchen und Dörfern weitab von der moder­nen Zivilisation zu finden ist. Das sind keine idealisierten Bilder einer an­deren Lebensform. Fontane und Roth wollen keine Alternative, sondern eine Korrektur zum modernen Leben bieten. Mit ihren detaillierten Schil­derungen von Menschen und Sitten zeigen sie, dass hinterm Berg auch Leute wohnen, und dass dieser Berg im Kopf sich bei vielen gleich vor der Tür erhebt, so dass sie geneigt sind, mit Spott auf die eigenen Landsleute