Heft 
(2015) 100
Seite
41
Einzelbild herunterladen

Heimat bei Fontane und Joseph Roth  Chambers 41 ­herabzusehen, wenn sie etwa anders reden oder aussehen, wie z. B. die wendischen Slawen im Spreeland oder die chassidischen Juden oder eben auch Slawen im östlichen Teil der ehemaligen Habsburger Monarchie. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Fontane und Roth, die selber nicht gläubig im orthodoxen Sinne waren, die Seelsorger, den Pfar­rer bzw. Rabbi in der Gemeinde, ausführlich darstellen. Dabei geht es ih­nen weniger um die Religion als um deren Rolle als sozialer und psycholo­gischer Halt für die Menschen in der Gemeinde. Das sind eher soziologische Beobachtungen. Die Geistlichen wirken identitätsstiftend und sinnstiftend im Rahmen der fundamentalen Erlebnisse im Menschenleben, etwa bei Geburt, Heirat, Sorgen, Krankheit und Tod. Sie bilden einen wichtigen Be­zugspunkt, einen Rückhalt, der im Falle des alten wendischen Pfarrers ge­fährdet ist, denn wer soll ihn ersetzen, wenn er stirbt? Und bei dem Wun­derrabbi drängt sich eine ähnliche Frage auf. Wer ersetzt diese Funktion als weise, Rat gebende Instanz in der modernen Gesellschaft? In ihren»Wandertexten« also wollen Fontane und Roth die Liebe bei­de verwenden ausdrücklich das Wort»Liebe« zu den Menschen und Sit­ten in oft vergessenen und übersehenen, wenn nicht gar verspotteten, un­scheinbaren Ecken und Enden ihrer Heimat zum Ausdruck bringen. Sie sagen zwar nicht, dass hier alles besser sei als in der sogenannten westli­chen Zivilisation, sondern dass es in gewisser Hinsicht anders ist, aber dafür eben auch nicht schlechter. Sie gehen differenziert vor, zeigen eine nicht geahnte menschliche Vielfalt und räumen mit vielen Pauschalurteilen und Klischeevorstellungen auf. Der Ton bei Roth ist oft polemischer als bei Fontane, denn zu seiner Zeit sind die Folgen der Vorurteile viel schlimmer und unmittelbarer. Beide aber arbeiten ohne jede Überheblichkeit mit Iro­nie und Humor der Unwissenheit entgegen. Sie plädieren dabei nicht nur explizit für die Geltung der eigenen Heimat, sondern gleichzeitig implizit für die Geltung einer jeden Heimat. Die Heimat, das Vaterland, ob Preußen oder Österreich, wir sahen es schon an den Wenden und Juden, birgt Mannigfaltigkeit und Unterschied­lichkeit. In seinem Artikel Die Märker und die Berliner zeigt Fontane, wie der berühmte Berliner Geist(ein geläufiger Begriff in den 1830er Jahren) die Eigenart moderner gesprochen die Identität der Gegend, Produkt eines komplexen historischen Assimilationsprozesses ist. Ausschlagge­bend dabei sei nicht nur das Einwandern vieler Franzosen im 17. Jahrhun­dert gewesen, sondern auch»das preußische Werbesystem, das sich über halb Europa hin ausdehnte«, bis in der Armee, und hinterher nach dem Krieg im Lande»alle Sprachen[gesprochen] wurden.« 40 Ein Vielvölkerstaat religiöser, sprachlicher und kultureller Art also, und gerade aus dieser Mi­schung entstehe das eigentliche an der Heimat. Roth schildert das bekann­tere österreichische Modell dieses Phänomens in Radetzkymarsch und in anderen Werken.