52 Fontane Blätter 100 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte nicht im Wege gestanden. Aus der umfassenden Produktion greife ich einige Titel heraus: Aus der Hausapotheke. Neues und Altes für Gesunde und Kranke, für Jung und Alt, für gute und böse Zeit. Erzählungen; Blätter von allerlei Bäumen; Aus der Sommerfrische; Beim Ampelschein; Ährenlese; Aus der Chronik eines geistlichen Herrn; Aus Lenz und Herbst; Aus der Heimat für die Heimat; Unterwegs; Feldblumen; Beim Lichtspan. Es sind Titel, die an die Biedermeierzeit erinnern und eine vertraute literarische Atmosphäre in die Erinnerung rufen. Was ist typisch an Frommels Erzählweise? Zur Veranschaulichung von Frommel als Erzähler greife ich einige Beispiele heraus. Das erste Beispiel ist der Erzählung Auf Badereisen entlehnt, die 1890 im Band Unterwegs veröffentlicht wurde. Der Anfang der Erzählung lautet: »Es gehört mit zu dem, ein gebildeter Mensch zu sein, sich im Sommer in irgend ein Bad zu begeben. Blühende Wangen, namentlich bei Mädchen und Frauen, sind immer in den Augen Vieler ein Zeichen niederer Bildung. Sagte doch eine Dame von einem jungen Mädchen: ›Das Mädchen hat wirklich ungebildet blühende Farben!‹ Also etwas angekränkelt zu sein von des Gedankens Blässe gehört heutzutage zum guten Ton. Freilich giebt es es auch andere Menschen, die das wahrhaftige Elend ins Bad treibt; und die allermeisten, die hin sollten, gleichen dem Kranken am Teiche Bethesda,den niemand hineinhebt.« 16 Hier fällt die Verbindung des komischen Vorurteils und der sozialen Analyse mit der biblischen Geschichte auf. Ohne Nachdruck wird die Geschichte aus dem Neuen Testament in die Erinnerung zurückgerufen. In Frommels 1893 erschienenen Erinnerungen mit dem Titel Aus Lenz und Herbst findet sich die Erzählung Eine Silvesterpredigt. Das in dieser Erzählung behandelte Problem gilt der Eigenart der Leichenpredigt. Frommel leitet die Erörterung dieser Frage mit einem konkreten Trauerfall ein, wobei der Erzähler die Leichenpredigt zu halten hat:»Es war im Jahre 187* und der letzte Tag im Jahre. Der Schnee lag hoch in den Straßen. Die Kälte war auch nicht schlecht, und auf Nachmittags drei Uhr die Beerdigung eines Generals von besonderem Verdienst und reicher Begabung angesetzt. Er war einer der kühnsten und tapfersten Reiterführer im Feldzuge gegen Frankreich im Jahre 1870, von Charakter treu und schlicht, seinen Freunden ein Freund, seiner trefflichen Gattin ein trauter Lebensgefährte. Mehr wußte ich nicht. Und das ist ja immer noch viel in Berlin. Von sehr Vielen weiß man gar nichts, als daß sie gelebt – und danach zu ihren Vätern versammelt sind. Was sie waren, erfährt man am Ende noch, aber wie sie waren, kündet uns an hunderten von Särgen kein Mund. Und doch soll ein Wort von dem Todten geredet werden; über ihn völlig schweigen – ist auch eine Leichenrede und vielleicht eine viel beredtere, als die mit Worten.« 17
Heft
(2015) 100
Seite
52
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten