Heft 
(2015) 100
Seite
53
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Fontane und Emil Frommel  Ester 53 Was anfangs eine Routineaufgabe zu sein scheint, entpuppt sich als gesellschaftliches Problem in der Großstadt Berlin. Dort lebt man anonym und dort stirbt man anonym. Die Erzählung Die Vögtin aus dem Tobel aus dem Band Aus der Sommerfrische beginnt mit einer persönlichen Aussage des Erzählers: »Der Verfasser hat von Jugend an gern Geschichten gelesen, und vornehmlich solche, darin erzählt wird, wie einer in der Welt zu Ehren gekommen, von dem mans nicht geglaubt.« 18 Nach dieser allgemeinen Feststellung geht der Erzähler in die Zeit zurück, hält 1775 inne und führt ein junges Mädchen ein, die Tochter des blutarmen Klosterknechts, die die Ziegen des Klosters hütet: »So wuchs das Annemeile(oder Anna Maria) auf wie ein wilder Rosenbusch mit Blüten und Dornen unter einander. Seelenfroh war sie, wenn der Bürgermeister ausschellen ließ, daß jetzt wieder das Vieh auf die Weide getrieben werde. Da holte sie ihren langen Geißenstecken hinter dem Ofen her und zog ihr Hirtenkleidchen an, das aus allerhand Flicken und Lappen bestand und trieb ihre Zöglinge den Berg hinauf.« 19 Um dieses Mädchen und ihr weiteres Leben vor dem persönlichen Hintergrund des Erzählanfangs geht es in dieser Erzählung. Emil Frommel erzählt Ernsthaftes, aber immer mit einem Augen­zwinkern verbunden. So fängt er das Kapitel»Dem geneigten Leser zum Gruß« aus seiner autobiographischen Schrift Aus der Chronik eines geist­lichen Herrn humorvoll an: »Als der Verfasser seinen vierzigsten Geburtstag feierte(an welchem bekanntlich die Schwaben ihren richtigen Verstand kriegen und gescheit werden, denn sonst bleiben sie eben so dumm wie die andern Bewohner des heiligen deutschen Reichs), sollte er abends zum Dank für all die schönen Sträuße und Glückwünsche ein Stück aus seinem Leben erzählen. Nun giebts aber kein wonnevolleres Stück darin, als den Morgen, zumal wenns bei einem stark auf den Abend geht. Da war alles so frisch und duftig, so voll Tau und Sonnenschein, da und dort auch ein Stücklein Nebel und Wolken dazwischen; Wahrheit und Dichtung, Selbsterlebtes und Gehörtes geht da bunt durcheinander.« 20 Emil Frommel knüpft in seinen Erzählungen immer an reale Erfah­rungen oder für den Leser zumindest als real vorstellbare Erfahrungen an. Seine Erzählungen besitzen immer ein pastorales, auf das Erzählte in der Bibel bezogenes Element. Frommel liest die Bibel als Sammlung von Erzählungen über das Heil und nicht als epische Verpackungen der Heilsbotschaft. Seine eigenen Erzählungen wollen dem Leser zu einer bestimmten Einsicht verhelfen, sie sind aber immer viel mehr als Illustrationen zu einer vorher feststehenden Lehre. Frommel erzählt aus Interesse am Leben, aus Freude über das bunte Leben der Welt. Daher