Heft 
(2015) 100
Seite
59
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Auf der Treppe von Sanssouci Wehinger 59 Vormärz stammen seine kritischen politischen Gedichte, die gegen das ­Establishment polemisieren, die Zensur attackieren usw. Nach dem Schei­tern der 1848er-Revolution sind es vor allem Balladen, die den Dichter be­schäftigen ein Erfolgsformat, das er beibehielt, kontinuierlich ausbaute und zu Meisterwerken der Gattung steigerte, die bis heute anerkannt und beliebt sind. Fontane und Menzel lernten sich in der literarischen Gesellschaft Tun­nel über der Spree in Berlin kennen. Menzel war seit 1852 Mitglied, er hatte sich das Künstlerpseudonym»Rubens« zugelegt; Fontane, seit 1844 Mit­glied, nannte sich»Lafontaine«. Seit dem Nachmärz wurde der Tunnel über der Spree zunehmend von konservativen Kräften dominiert. Fontane und Menzel gehörten zur Minderheit, die dem liberalen Denken des Vormärz nicht ganz abgeschworen hatte; sie gründeten sogar einen konkurrieren­den literarischen Zirkel, den sie anspielungsreich Rütli nannten. Einen ­Einblick in die literarische Geselligkeit Berlins vermittelt Fontanes histori­scher Roman Vor dem Sturm(1878); dort wird im studentischen Litera­turzirkel Kastalia fleißig gedichtet und über Literatur, Philosophie, Patrio­tismus diskutiert. Im Tunnel über der Spree glänzte Fontane als Dichter, der auf den Anlass hin Gedichte verfertigte, anlässlich privater oder öf­fentlicher Ereignisse, Fest- und Gedenktage versierte Verse schmiedete. Er war als Gelegenheitsdichter gefragt; zahlreich sind seine gereimten Glück­wünsche zu Geburtstagen oder Hochzeiten. Es schien ihm Freude zu berei­ten, mit seinen Gedichten die Adressaten zu erfreuen, zu loben, zu trösten, ihnen zu gratulieren oder bei Gedenktagen zum Nachdenken anzuregen. Viele seiner Verse blieben als persönliche Gabe, als Geschenk an Familien­mitglieder, Freunde, Freundinnen ungedruckt, andere wurden zum gege­benen Anlass publiziert, als Einzeldruck in der Zeitung wie das Gedicht Auf der Treppe von Sanssouci. Oder Fontane veröffentlichte die von ihm sorgfältig zusammengestellte Gedichtauswahl in einer der zu Lebzeiten erschienenen Gedicht-Sammlungen. Das Gelegenheitsgedicht als Gabe des Dichters an eine namentlich ge­nannte Persönlichkeit zu einem gegebenem Anlass hat zunächst eine sozia­le Funktion; diese ist der Gattung, die bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahr­hundert allgemein Anerkennung genoss, von Beginn an eingeschrieben. 15 In den Glückwunsch- oder Trostgedichten geht es nicht in erster Stelle um das subjektive Empfinden des Dichters oder um den Seelenzustand des lyrischen Ichs und sein kompliziertes Verhältnis zur Welt. Im Mittelpunkt stehen die ›angedichtete‹ Person und der Anlass sei es, um zu erfreuen, Trost zu spenden, zu ermahnen, immer aber um zu unterhalten, im kon­kreten und im übertragenen Wortsinn. Auch bei Fontane stellt die kom­munikative Funktion im Kontext literarischer Geselligkeit und gebildeter Soziabilität die Grundlage der Casualdichtung dar. Sie hat den Adressa­ten im Blick und setzt auf die Wirkung, die das Gedicht erzielen soll. Der