60 Fontane Blätter 100 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Gelegenheitsdichter greift auf die Mittel der Rhetorik zurück, lotet die Wirkungsmöglichkeiten des Witzes, des Humors, der Ironie, der Satire aus. Großzügig verschenkt er seine poetische Gabe als Unikat an die angedichtete Person, die zu erfreuen er beabsichtigt; mit der Veröffentlichung des Gedichts lässt er dann das Publikum an seiner ›Gabe‹ teilhaben. In den Jahren zwischen 1850 und 1870/71 nahm Fontane gelegentlich auch offizielle oder offiziöse Aufträge zum Dichten an; etwa zu Siegesfeiern der preußischen Armee, zu Prinzen- und Prinzessinnengeburtstagen, Thronbesteigungen oder staatlich verordneten Gedenktagen, Verse, die vielleicht noch von historischem Interesse sind, weil sie nachvollziehbar machen, warum das Gelegenheitsgedicht, insbesondere in Form der offiziellen Auftragsdichtung im Laufe des 19. Jahrhunderts so sehr in Misskredit geriet: Das im Auftrag der Mächtigen verfasste Gelegenheitsgedicht galt in der deutschsprachigen Lyrikdebatte als Verrat an der Poesie, am lyrischen Gedicht, das sich der Erkundung der Subjektivität, der inneren Empfindung des dichtenden Individuums, des lyrischen Ichs widmet und sich dabei keiner normativen Reglementierung unterwirft. Die ›reine‹ Poesie in Form der Erlebnisdichtung verabscheut das Rhetorische. Wortgeklingel ist ihr zuwider. Von banalen Alltagskonventionen hält sie sich ebenso fern wie von pompöser Feierlichkeit und staatstragendem Pathos. 16 Fontane hatte sich in den Jahren nach 1848, wie andere ehemalige Liberale seiner Generation(wenn auch keineswegs alle), mit dem restaurativen Zeitgeist in Preußen mehr oder weniger arrangiert. Nach 1871 wurden seine Gelegenheits- beziehungsweise Zeitgedichte angesichts des auftrumpfenden Wilhelminischen Kaiserreichs wieder interessant, spöttisch, kritisch. 17 Unabhängig davon war sein Lyrikbegriff breiter angelegt. Aus seiner Perspektive konnte ein Gedicht»schlicht und einfach auch Schilderung, Erläuterung einer Situation, pointierte Nachricht« sein:»Meine Neigung und – wenn es erlaubt ist so zu sprechen – meine Force ist die Schilderung. Am Innerlichen mag es gelegentlich fehlen«, schreibt er im Februar 1854 an Theodor Storm, den zeitgenössischen Vertreter der Lyrik, die frei sein will von trivialer Alltäglichkeit oder aktuellen politischen Themen,»das Äußerliche hab’ ich in der Gewalt … das Lyrische ist sicherlich meine schwächste Seite, wenn ich aus mir selber und nicht aus einer von mir geschaffenen Person heraus, dies und das zu sagen versuche«. 18 Um es mit Fontanes ironisch-humorvollen Worten zu sagen, fühlte er sich weniger vom»Weihekuss der Muse« inspiriert als von der»Forschté«. 19 Er betrachtete höchst unterschiedlich geformte Gedichte als durchaus ebenbürtig, vorausgesetzt sie sind sprachlich gut gemeistert, thematisch geistreich, über den konkreten Anlass hinausweisend, kunstvoll, in der Lebenswelt verankert und nicht langweilig. Fontanes Gedicht anlässlich des 70. Geburtstags Adolph Menzels erweist sich als ein Gelegenheitsgedicht, das mit sprachlicher Brillanz die Gattungserwartungen übertrifft. Um es mit
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(2015) 100
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60
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