80 Fontane Blätter 100 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Fontanesche Kreidekreise oder»kein Gefühl für solche dürre Beamtenhaftigkeit«. Der Schriftsteller als Erster Sekretär der preußischen Akademie der Künste Zur ersten Dimension von ›Archiv‹ leitet uns eine anekdotische FontaneErinnerung Anton von Werners, des Historienmalers, Direktors der Akademischen Hochschule für die bildenden Künste und Senatsmitglieds der preußischen Akademie der Künste. Fontane, der»Dichter der Mark« und Verfasser mehrerer Kriegsbücher, der sich 1876 hier, in der Akademie der Künste, im Amt des Ersten Sekretärs befindet, nimmt in ihr die Rolle des entfremdeten Künstler-Kollegen ein, des Aktenarbeiters in größter Distanz zum»Dienst der Musen« 14 . Bildlichen Ausdruck dieser Spannung bildet ein so seltsam improvisiertes wie undurchsichtiges, geometrisch-nummerisches Akten-Registratur-System: »Vom Aktenwesen, vom Registratur- und Bureaudienst verstand er natürlich ebensowenig wie ich, und ich fand ihn eines Tages ratlos vor einem mächtigen Stoß von Aktenbündeln in einer Situation, die einer gewissen Komik nicht entbehrte. Er stand, einen roten Fez auf dem Haupte, sinnend vor einem langen Tisch, auf dessen Holzplatte er mit weißer Kreide eine größere Anzahl Kreise und Nummern gezeichnet hatte, in die er Aktenstücke bald hinein- bald wieder hinauslegte, anscheinend, um sie nach irgendeinem System zu ordnen. Er schien diese Beschäftigung zwar sehr merkwürdig zu finden, nahm sie aber nicht geradezu tragisch, während ich den Eindruck hatte, daß er gegenüber den an ihn unter den vorliegenden Umständen zu stellenden Forderungen sich noch weniger zum Beamten eignete als ich.« 15 Was von Werner anekdotisch zuspitzt und explizit komisch konnotiert, traf mit Fontanes Worten in seine»schlechteste Lebenszeit« 16 . Durchsetzt von Personal- und Zuständigkeitsquerelen mündete das nur wenige Monate durchlittene Amt in eine tiefe, gut dokumentierte Künstlerkrise. 17 Dass diese Krise nicht zuletzt durch Rivalitäten zwischen Fontane und Anton von Werner herausgefordert bzw. katalysiert wurde, darüber schweigt die Anekdote. Vielmehr stellt sich ihr rückblickender Verfasser, Kunstbeamter und»Stern am kaiserlichen Künstlerhimmel« 18 , neben Fontane auf die Seite der Kunst. Der Schriftsteller hat die Erfahrungen des Akademiejahres in Briefen verarbeitet, in denen er das von-Wernersche Bild ausdifferenziert und entfaltet hat. Kunst als Musendienst und preußische Staats- und Bürokratiemaschinerie erscheinen dabei in strikter Opposition. Die mit den Aktenstücken aufgerufene und im Archivkomplex immer schon angelegte Verwaltungsdimension 19 füllt Fontane mit kreativitätsfressender Reskripte-Fabrikation, bei der sich Papiervermehrung und geistige Armut bedingen. Zur Einsicht in den ideellen Mehrwert eines Uhlandschen Frühlingsliedes
Heft
(2015) 100
Seite
80
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