Z u Dimensionen von»Archiv« bei Fontane und Grass Brosig 81 »oder einer Strophe von Paul Gerhard« gegenüber»3000 MinisterialReskripte[n]« 20 , dazu ist die Philistergesinnung des Aktenbündel-Milieus gar nicht imstande. Einmal in sie hineingeraten, reduziert»das Mitwirthschaften in der großen, langweiligen und[…] total confusen Maschinerie, die sich Staat nennt« 21 den Dichter zu einem»Rad in dem großen Verwaltungsmechanismus«, der»alljährlich so und so viel beschriebenes Papier in die verschiedensten Aktenbündel« zu liefern verpflichtet ist, wohingegen er»zur Geltendmachung einer Idee[…] wenig herangezogen« 22 wird. Die schroffen Antagonismen täuschen nicht über die Kränkung desjenigen hinweg, der sich vonseiten der Akademie nicht»wie ein[…] etablirte[r] deutsche[r] Schriftsteller« behandelt fühlt, sondern nur»wie ein ein[…] ›matte[r] Pilger‹« 23 . Dass Fontane, der auf materielle Sicherheit und Anerkennung ein Recht zu haben glaubt, die Kränkung nicht nur als Enttäuschung, sondern als Täuschung seitens der Akademie reflektiert, indiziert dabei gleich eine doppelte Verkennung, die Hubertus Fischer so klar wie schonungslos charakterisiert hat:»Fontane ist an den Verhältnissen, wie er sie bereits bei Amtsantritt vorfand und zu ändern nicht in der Lage war, gescheitert. Ebenso sehr ist er aber an sich selbst gescheitert: Die Vorstellung, die er sich von der Tätigkeit eines ›Ersten ständigen Sekretärs‹ machte, hatte mit den tatsächlichen Anforderungen und Aufgaben nur wenig zu tun«. Der Kern seiner Arbeit,»die eigentliche Verwaltungstätigkeit, kam darin nur am Rande vor« 24 . Zusammen mit der Diskrepanz zwischen den »an ihn unter den vorliegenden Umständen zu stellenden Forderungen«, wie es in der bürokratisch anmutenden Formulierung von Werners heißt, und seinem hohen»Selbstbild, das er auf dieses Amt übertrug«, waren die Voraussetzungen für»einen beispiellosen Absturz« 25 geschaffen. In dessen Folge sah sich Fontane»vom Schriftsteller auf den Schreiber« 26 herabgekommen und wurde sich seiner mangelhaften Reputation bewusst, die er sich als vaterländischer Autor von Balladen, Kriegs- und Wanderungsbüchern doch erworben zu haben glaubte:»[…] mein Barometerstand ist sehr gesunken. Ich muß mich erst wieder legitimieren.« 27 Wenngleich er die Legitimität der Messapparatur in Zweifel zog, die den niedrigen Barometerstand signalisierte, forderte die mit dem Amt verbundene Krise doch sein Künstlerselbstverständnis heraus, erzwang und katalysierte»den Durchbruch des Prosaisten zu einem Erzähler« 28 . Als»Schmerzenskind« 29 der Krise entstand der zwei Jahre später veröffentlichte Romanerstling Vor dem Sturm(1878), geboren»aus dem Aktenstaub der Akademie« und – mit Hubertus Fischers anspielungsreicher Formulierung – zugleich ein»›Bericht‹ gegen die Akademie«. Dass Fontane als Kunstbeamter»bei äußerlich reputierlicher Stellung über kurz oder lang die Feder vertrocknet« 30 wäre, wie Hubertus Fischer mutmaßt, rekurriert dabei auf Fontanes eigene Verarbeitungsstrategie, in der die stereotypen Beamten-Konnotationen aufgerufen und von sich
Heft
(2015) 100
Seite
81
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