Z u Dimensionen von»Archiv« bei Fontane und Grass Brosig 83 mich, wie immer, im Stich; man kann sagen, er hat 2000 Seiten mit Stoff gefüllt, der in Akten, aber nicht in Bücher gehört; alles todt und ledern.« 42 Das abwertende und für die Konzeption von ›Archiv‹ bedeutsame Urteil über die historischen»Detailisten« 43 begründet Fontane mit dem Verlust des»freie[n] Blick[s]«, den er Ernst Fidicin oder Heinrich Berghaus unterstellt, aber auch an sich selbst entdecken muss. Virulent wird dieser Mangel dort, wo der»Sammler«, als der er sich stilisiert, mit dem Material nicht »sorglos« operieren kann wie ein»Spaziergänger«,»der einzelne Ähren aus dem reichen Felde zieht« 44 , sondern sich das Gerüst der Geschichte erst in Historikermanier erarbeiten muss. Dabei macht er die Erfahrung, dass die mühseligen Vorarbeiten auf die Darstellung durchschlagen bzw. auf sie abfärben, wie er in selbstkritischer Wendung bezüglich seines Oderland Bandes 1882 bekennt. Gegen die als»Irr- und Gefahrsweg« 45 erkannte »strikte historische Wahrheit«, die aus»exacte[r] Contour« ihrer Gegenstände und ihrer systematischer Ordnung resultiert, setzt Fontane auf das menschlich-lokale» Kolorit« 46 und die»freie, künstlerische Behandlung eines Stoffs um des Künstlerischen willen 47 . Dahinter müsse sich der Historiker verbergen,»oder sich wenigstens zu verbergen suchen« 48 ; etwa durch spielerisch-novellistische Zurichtung des Stoffes, so dieser nicht schon vorgeformt, etwa als Anekdote, vorliegt. Für seine Vortragsweise favorisiert der Schnippchenspieler des Historischen, wie sich Fontane in einem Brief vom 8. Oktober 1882 an Wilhelm Hertz beschreibt, einen kommunikativen, plaudernden Erzählgestus. 49 Mit ihm soll Geschichte nicht vom »Registrator-Standpunkt« 50 herab referiert, sondern mittels Geschichten vor dem Leser ausgebreitet, d.h. erzählt werden. Im Rahmen dieses Geschichtenerzählens kommt nun den lokalen Archiven eine besondere Rolle zu. Nicht nur, weil bei Sichtung und Ausmünzung ihrer Bestände die Arbeit des Sammelns in die Tätigkeit umformender Gestaltung übergeht. Sondern weil Fontane die Archive nicht im Vorhof der Literatur belässt, wie es die programmatischen Stellungnahmen vermuten lassen. Das Gegenteil ist der Fall: Er sucht ihre Inventur gar nicht zu verbergen, vielmehr eröffnet er die Archive im Text, verwandelt sie seinen Zwecken an und bringt sie als Erzähler vor seine Leser. Mittels zitierender, paraphrasierender und plagiierender Einblendung von Archivischem, Archivalischem und Archivarischem konstituiert sich so ein vielgestaltiger, facettenreicher Archiv-Diskurs, dessen Einheit sich nur in seinen selbstreferentiellen und kommunikativen Zügen bezeugt. 51 Zu den Varianten dieses Diskurses gehört die Würdigung der Besonderheiten märkischer Archivbestände ebenso wie die Prüfung ihres Nutzund Gebrauchswertes. Der Erzähler bedenkt ihren Wahrheitsgehalt, informiert über ihre(Un)Zugänglichkeit und bringt die Lücken sowie das Schweigen der Archive zur Sprache. Er kommentiert die Zurichtungen
Heft
(2015) 100
Seite
83
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