Heft 
(2015) 100
Seite
86
Einzelbild herunterladen

86 Fontane Blätter 100 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Wenn Fontane märkische Geschichte explizit an ihre Speichermedien bin­det, ist es ihm also nicht zuerst und allein um historiografische Genauig­keit zu tun. Vielmehr um die Suggestion von Autopsie und Authentizität im Dienste seines patriotischen und audiovisuellen Programms. Die»auf Les­barkeit und affektive Resonanz ausgerichtete Reaktualisierung« 65 der mär­kischen Archive funktioniert dabei gleichwohl als argumentatives wie künstlerisches Mittel, das»seiner Darstellung die gewünschte Patina« so­wie»dokumentarische Beweiskraft« 66 verleiht. Indem er die Archive vor seine Leser bringt, er ihre Verluste verzeichnet und ihre Gefährdung deut­lich macht, macht er sie zu Komplizen seines märkischen Rehabilitations­programms, das ja Erlösung von Geschichtslosigkeit bezweckt. Diesem komplexen Funktionszusammenhang von ›Archiv‹ griff die zeit­­genössische Zuschreibung des Literaturhistorikers Eduard Engel schon vor, als er Fontane 1883 in seiner Schach von Wuthenow-Rezension in den Rang eines»novellistische[n] Archivdirektor[s] der Mark Brandenburg« 67 erhob und dabei dessen besondere, historisch-poetische Inventarisierung der Mark ins Bild setzte. 68 Dass der Archivdirektor ohne seine novellisti­sche Seite nicht zu denken ist, entsprach dabei ganz Fontanes Selbstbild, das er fünfzehn Jahre zuvor gegenüber Mathilde von Rohr in den Umriss des Archivbeamten gesetzt hatte, zu dem er sich nicht berufen fühlte. Im Vergleich mit der Zuschreibung Engels setzte er in der Beamtenhierarchie allerdings wesentlich tiefer an, als er am 7.5.1868 repliziert:»Sie haben im­mer einen Archivrath aus mir machen wollen, das ging nicht. Ich hatte stets das Gefühl, daß speziell dazu andere Personen erforderlich seien.« 69 Im Lichte des Archivkomplexes erscheint der synthetische Titel des »novellistische[n] Archivdirektor[s]« nicht als Oxymoron, sondern wird als ein symbiotischer lesbar. Die Wanderungen realisieren diese Symbiose durch wechselseitige Beleihung von Erzähler-Funktionen: Der sammelnde und verzeichnende Archivar profitiert dabei vom Novellisten, weil er ihm jene gestalterischen Mittel leiht, die aus der trockenen Archivalien-»Wüste« eine»ganze Geschichte erblüh[en]« 70 lassen. Darüber wird die Erzähler­funktion anschließbar an die Mythenkonzeption, die Hans Blumenberg in Arbeit am Mythos umrissen hat. Blumenberg zufolge untersteht die doppel­deutig zu verstehende Arbeit am Mythos im Dienste seines zentralen Kenn­zeichens, nämlich seiner»Bedeutsamkeit«. 71 Wem es gelingt,»Bedeut­sam­keit« zu erzeugen, der kann die»nominose Unbestimmtheit in die no­mi­nale Bestimmtheit« 72 überführen, kann die namenlose, amorphe und be­droh­liche Wirklichkeit dadurch verfügbar machen, indem er ihr Sinn und Be­deutung erhält. 73 Im Medium erzählter Geschichte gelingt Fontanes Erzäh­ler genau dies. Er macht die namen- und gestaltlose Mark Brandenburg zu etwas Vertrautem und Ansprechbarem, verleiht ihr Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit. Diese Leistung erbringt der Novellist aber nicht allein. Er bedarf des inventarisierenden und verwaltenden Archivdirektors,­den er