Heft 
(2015) 100
Seite
87
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Z u Dimensionen von»Archiv« bei Fontane und Grass  Brosig 87 um der Autorität vor dem Leser willen beleiht. Der Leser wiederum vertraut sich Fontanes Sammlungs-, Erschließungs- und Eröffnungspolitik an. 74 In diesem integrativen Sinn stehen die improvisierten Kreidekreise des Aka­demiesekretärs für die Tauglichkeit des erfundenen Ordnungssystems. »Kein Archiv ohne Lücke« oder»Im Zweifelsfall war Fonty das bessere Archiv«. Das Fontane-Archiv erzählt Dass es neben Günter Grass Roman Ein weites Feld(1995)»vermutlich kei­nen anderen« gibt,»der nicht aus Fontanes Feder geflossen ist« 75 , aber sei­nem Werk und seiner Biografie so viel verdankt, hat Hans Ester 2003 be­tont. Während das Feuilleton das Buch in einer nachspielähnlichen Debatte zum deutsch-deutschen Literaturstreit mehrheitlich verriss und skandalisierte, klangen in den Fontane-Blättern nachdenklichere Töne an. 76 Hier, im Umfeld des Archivs, interessierte man sich für den Text schon in eigener Sache, schließlich hatte man einem incognito recherchierenden Autor-Informanten das Haus geöffnet und fand sich nun, im Roman, als Er­zähler wieder, zumal in korrumpierender Nähe zum politischen Ge­heimdienst der DDR. 77 Unverständnis wurde laut, gegenüber Fonty, dem in der Basiserzählung der politischen Wendezeit agierenden Wiedergänger der historischen Autorfigur Fontane, und gegenüber seinem homo­die­getischen Konstrukteur, dem als Erzählkollektiv ausgewiesenen Fontane-­Archiv: Warum bringt der Roman die Institution ins Spiel? 78 Und was hat es mit der Doppelgänger-Figur Fonty auf sich? 79 Im Folgenden verlängere ich den Archivkomplex in Richtung Fontane- Rezeption und frage nach der Identität von Erzähler- und Protagonisten-Figur sowie der Sinnfunktion der Konstellation. »Wir vom Archiv nannten ihn Fonty[]«. 80 Am Anfang steht das Ar­chiv und verweist auf seinen im Wort enthaltenen Ursprungssinn. 81 Vom ersten Satz an ist das Werk als Archivroman konzipiert. Aus ihm geht die Dichterfigur Theodor Fontane hervor, über ihren wendezeitlichen, von ­Dezember 1989 bis Oktober 1991 agierenden Wiedergänger Theo Wuttke, genannt Fonty; durch Postfiguration und biografische Fiktion, genährt aus Fakten und Akten, primärer und sekundärer Fontane-Literatur und aus lückenfüllender Phantasie. Zur Inszenierung Fontys und der Welt seines archivischen Erzählgenerators variiert Grass die Opposition von Kunst und Verwaltung, wie sie im Bild der von Wernerschen Kreidekreise ­an­ge­legt und in Fontanes Spiegelung seiner Akademiekrise ausgearbeitet war: Hier die»papierene Materie« und das»lederne[] Archivwissen« gesichts­loser»Fußnotensklaven«, dort die kreative, geschichtenerzählende Fonty-Figur, die in den Spuren ihres historischen Vorbildes wandelt und dabei Zeit- und Raumgrenzen überwindet(EwF 414, 436). Das rückgrat­