Z u Dimensionen von»Archiv« bei Fontane und Grass Brosig 89 in der der historischen Figur nachgeordneten, dienenden Existenz sind sie als einander»ergänzende Sammlernatur[en]« konzipiert, verkörpern sie nur verschiedene Varianten der»Arbeit am Mythos« des»Unsterblichen«, angetrieben durch Lücken in Biografie und Werk bzw. ihrem Verständnis. (EwF 417, 579) So signalisiert der Archiverzähler in selbstkritischer und selbstreflexiver Wendung:»Auch wenn wir uns der primären und sekundären Fakten sicher sind, muß zugegeben werden: Das Archiv wußte nicht alles.«(EwF 85) Die Institution bedarf also der Fonty-Figur, von der sie behauptet, sie sei das»bessere, weil lückenlosere Archiv«(EwF 206). Als der Protagonist am Romanschluss das Weite im Land seiner Vorfahren sucht, werden Wert und Bedeutung des zweiten Archiv-Parts ex negativo expliziert: Da fehlt der Sammelstelle der»belebende staubaufwirbelnde Atem« Fontys, da indiziert sein Verlust seine Funktion als»gute[r] Geist« des institutionellen Teils der Konstellation(EwF 764): »Wir begannen uns daran zu gewöhnen, ohne leibhaftige Hilfe unser Kleinklein betreiben zu müssen. Nein, wir gewöhnten uns nicht, vielmehr waren wir sicher, ins Bodenlose gefallen zu sein, weil uns mit Fonty der Unsterbliche verlassen hatte. Alle Papiere wie tot. Keinem Gedanken wollten Flügel wachsen. Nur Fußnoten noch und Ödnis unbelebt. Leere, wohin man griff, allenfalls sekundäres Geräusch. Es war, als sei uns jeglicher Sinn abhanden gekommen. Fonty, der gute Geist, fehlte. Und nur, indem wir Blatt auf Blatt füllten, ihn allein oder samt Schatten beschworen, bis er wiederum zu Umrissen kam, wurde er kenntlich, besuchte er uns mit Blumen und Zitaten, war er, ganz gestrig, der von Liebermanns Hand gezeichnete Greis, nah gerückt, doch mit Fernblick schon, um uns abermals zu entschwinden...«(EwF 780) Fontys»gute[r] Geist« erweist sich dabei zuallererst als Medium, wie Jutta Osinski überzeugend dargestellt hat, und zwar als ein doppelt bedeutendes, als eines,»durch das der Unsterbliche fortlebt« und damit zugleich als eines,»mit dessen Hilfe das Archiv Lücken füllt, Varianten notiert, Erkenntnisse gewinnt.« 92 Nicht nur erzähltechnisch kommen nun Anfang und Schluss zur Deckung. Indem das Schreiben über den Entschwundenen beginnt, ersteht durch die»leibhaftige Hilfe« Fontys, dem hermeneutischem Medium und dem»guten Geist der Literatur« 93 , der Roman und mit ihm die Dichterfigur Theodor Fontane. Mittels echter, erfundener und anverwandelter Zitate, mit kompilierten Lektüren, Bildbeschreibungen, ausgedeuteter Fontane-Literatur und überlieferten Haltungen, führt Grass Fontanes Biografie als Fiktion vor,»nicht als solche[…], sondern als Wirkung, als Effekt eines Verstehens von Texten« 94 und ihrer(Zeit)Geschichte. Eingebettet in die Ereignisse der politischen Umbruchzeit wird die Fonty-Archiv-Konstellation lesbar als eine, die gegenüber einem brüchiggewordenen Geschichtssinn Kontinuität verbürgen und Verstehen ermöglichen soll.
Heft
(2015) 100
Seite
89
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