Heft 
(2015) 100
Seite
90
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90 Fontane Blätter 100 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Neben und mit diesen Funktionen erweist sich die konkrete Konfiguration in eine duale Makrostruktur integriert, die sich für die gesamte Roman­komposition als bestimmend erweist. Ihr Grundmuster ist die Wiederho­lung, die zugleich konstitutives Merkmal des Mythos ist. Im Rahmen dieses komplexen Wiederholungssystems funktioniert die Fonty-Archiv-Paarung als Teil einer Apparatur, die auch hier der»Arbeit am Mythos« im Sinne Blumenbergs verpflichtet ist. Dem Ziel, Bedeutsamkeit zu erzeugen, unter­stellt Blumenberg bestimmte Gestaltungsmittel, welche jenen ähneln und gleichen, die auch in Grass Roman Wirkung entfalten. 95 Eine kaum über­schaubare Fülle von Parallelen, Ergänzungen, Verdoppelungen, Kreis­schlüssen und latenten Identitäten, von denen die Fonty-Archiv-Paarung nur eine Variante darstellt, variieren bei Grass das Grundmuster der Wie­derholung und erzeugen»Bedeutsamkeit« 96 als»Zuschuß zu positiven Fak­ten, zu nackten Tatsachen«. 97 Im Rahmen dieser Wirkungsstrategie zeigt sich das durch Fonty und das Archiv ins Werk Gesetzte nicht auf die Konservierung des Dichtermy­thos beschränkt, wie Frauke Bayers Untersuchung dargelegt hat. Zum Einsatz kommen ebenso entmythisierende bzw. depotenzierende Wieder­holungsspiele. Auch wenn diese gleichwohl der»Arbeit am Mythos« unter­stehen und»Bedeutsamkeit« erzeugen, zelebrieren sie den Dichtermythos doch nicht etwa weihevoll, sondern verlebendigen die Fontane-Figur all­täglich und realitätsnah. 98 Dabei wird Fontanes Verhältnis zu den Juden ebenso thematisiert wie seine illegitime Vaterschaft durch die Dresdener Affaire. Wie der mythische Nachvollzug von Rollen durch Fontys Fami­lienmitglieder erscheinen auch die Medien kollektiver Fontane-Verehrung und mit ihnen das Fontane-Archiv, in parodistischer Brechung. 99 Dass Grass die Um- und Fortschreibung des Dichtermythos Fontane über die Zweiheit von Institution und Figur realisiert, ist Schlüssel zur Sinnfunktion der Konstellation: Indem das Archiv sein historisches Samm­lungsobjekt nicht lediglich konserviert, bewahrt oder verwaltet, sondern es einer widersprüchlichen historisch-politischen Gegenwart aussetzt, die sie mit ihm sondiert und zu verstehen sucht, wird, angetrieben vom Archiva­lienzuwachs und seinen Lücken, aus dem archivarischen Zählen das Erzäh­len eines sinnhaften Entwurfs möglich. 100 Vermag sich der»Friedhof der Fakten« in den»Garten der Fiktionen« 101 zu verwandeln, ganz im Sinne des historischen Wanderungen-Autors und seinem B ­ estreben, die trockene Archivalien-»Wüste« zum»Sprudel[n]« zu bringen, um aus ihr eine»ganze Geschichte erblüh[en]« 102 zu lassen. So arbeiten denn auch Fonty und das Archiv, in Konkurrenz und in Symbiose, in Ergänzung und in Verdoppe­lung, am Mythos Fontane, dem»novellistische[n] Archivdirektor der Mark Brandenburg« und seinen improvisierten Kreidekreisen.