Heft 
(2015) 100
Seite
103
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Fontanes Briefe ediert  Selbmann 103 dialogisch definiert, so dass Gellerts berühmtes Diktum von 1751, ein Brief sei die»freye Nachahmung eines guten Gesprächs«, für die Folgezeit fast topischen Charakter angenommen hat. Andererseits ist der Briefschreiber (und meist auch der Briefleser)»mit sich allein«(S. 50). Den zweiten Teil, eine Bestandsaufnahme der bisherigen Brief-Editio­nen, bereichert Helmuth Nürnberger mit seinen Erinnerungen an die Ent­stehung der Hanser-Briefausgabe seit 1976(S. 58–100). Nürnbergers launi­ge Darstellung, als»recht persönlich« gekennzeichnet(S. 92), liefert eine lebendige, trotz ihrer Länge niemals langatmige Wissenschaftsgeschichte in nuce. Wer viel erlebt hat, weiß viel zu erzählen. Was den persönlichen Erzählduktus betrifft, so knüpft Eda Sagarra mit ihren Erinnerungen an Charlotte Jolles an(S. 101–111). Spannend und be­lehrend ist der Beitrag von Hans Ester Der Streit um das Fontane-Bild. Paul Schlenther und die Probleme und Strategien der Nachlasskommission zu lesen(S. 112–130). Ester arbeitet überzeugend heraus, wie es Schlenther gelungen ist, sich innerhalb der Nachlassquerelen vom Gesprächspartner des Dichters zu Lebzeiten zu einer Art Fontaneschem Eckermann nach des­sen Tod zu stilisieren(vgl. S. 129). Das Textmodell des Palimpsests steht im Mittelpunkt des Beitrags von Uta Beyer zur Herausgabe der Familienbriefe Fontanes(S. 131–155). Beyer führt vor, wie Eingriffe der Herausgeber bis zu Zensur und Fälschung reichen(S. 135), um ein vermeintlich echtes, aber eben geschöntes Bild Fontanes als biedermeierlichen Familienvater für die Nachwelt zu sichern elegant ausgedrückt:»womit Textgenese in postmor­talen Brechungen als Effekt palimpsestischer Textualität beschreibbar werden kann«(S. 139). Der dritte Teil des Bandes beginnt mit einem Beitrag von Thorsten Gabler Zur Aisthetik des Briefes(S. 158–175). Gemeint sind damit Briefe, die in ihrem Erscheinungsbild grafische Strukturen und Figuren, Kreuz­und Querschreibungen oder Schreibverweisungen enthalten. Wie sollen diese ediert werden, ohne dass beim Transfer des originalen Briefmateri­als in den gedruckten Text wichtige Informationen verloren gehen? ichael Ewerts Beitrag Uneigentliche Briefe nimmt sich das»Verhältnis von Brie­fen, Reisebriefen und Brief-Essays im Werk Fontanes« vor(S. 176–189). Am Ende der kenntnisreichen Untersuchung zeigt sich, dass solche Brieffor­men in kein»strenges Textsorten- oder Gattungskorsett« passen(S. 189). Aber genau dadurch werden sie interessant. Christine Hehle berichtet nicht nur von bisher verborgen gebliebenen Fontane-Briefen in den Wie­ner Nachlässen von Karl Emil Franzos und Moritz Necker. Sie ediert sie auch gleich auf den folgenden Seiten(S. 190–217). Der vierte und letzte Teil,»Fontanes Briefe medial« bringt Beiträge ganz unterschiedlichen Zuschnitts. Yvonne Pietsch referiert mit einem nur sehr lockeren Fontane-Bezug über Wissenschaftsstrategien am Beispiel der historisch-kritischen Goethe-Briefausgabe unter den drei Schlagworten:­