106 Fontane Blätter 100 Rezensionen und Annotationen empfindenkönnen angesichts von Emma Bovarys sexuellem Begehren oder dass das Geschehen in der Kutsche deren sexuelle Phantasien stimuliert und dass sie in schadenfrohes Kichern über die Dummheit des grotesken Charles Bovary verfallen(vgl. 193). Aber auch das Können der Autoren scheint zu schrumpfen angesichts von Metaphern, die schwindelerregend aufgetürmt werden(82). Die Kunst der sprachlichen Darstellung, auf die ja alles dem Titel nach bezogen sein sollte, gerät zugunsten von Charakterisierungsversuchen der am Ehebruch unmittelbar und mittelbar Beteiligten von Beginn an ins Hintertreffen und wird an keiner Stelle systematisch entwickelt. Am meisten überzeugen die Kapitel, in denen Wolfgang Matz Einordnungen von Handlungen und Verhältnissen bezogen auf die historischen Rahmenbedingungen vornimmt(171–177). Doch wäre der immer wieder angeführte Realismus-Begriff in Anbetracht dieser drei so unterschiedlich angelegten und in divergierenden Kontexten publizierten Romane viel präziser zu entwickeln gewesen. Obwohl selbst als Literaturwissenschaftler etabliert, mokiert sich Matz immer wieder über die Zunft und hebt um der stets gesuchten Zuspitzung willen und wider besseres Wissen die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler selbstbewusst auf(»das Schicksal namens Gustave Flaubert«, 90;»Eine bekannte Lesart weist darauf hin, dass die männlichen Autoren ihre Frauen für diesen Schritt mit dem Tode büßen lassen«, 101). Die große Vorliebe des Verfassers gilt Tolstois Anna Karenina, und Madame Bovary wird gegenüber Effi Briest unmissverständlich als der kompositionell überlegene Roman gewertet(vgl. u.a. 41). Es liegt in der Sache des Vergleichs, Bewertungen vorzunehmen, und es ist legitim, wahrgenommene Vorzüge herauszustreichen und der eigenen Begeisterung Nachdruck zu verleihen. Ein Unbehagen stellt sich jedoch ein, wenn in der Absicht, Texte gegeneinander auszuspielen, unpräzise argumentiert wird. Auch entsteht lesend der Eindruck, der Verfasser sei zwar inhaltlich über Ehebruch und unglückliche Liebschaften in Fontanes Romanen informiert, verfüge aber über keine hinreichende Kenntnis der Texte und der ihnen zugrunde liegenden Poetik. Man mag Matz’ Skepsis zustimmen, dass die Bedeutung der historischen Vorlage für den Roman in(positivistischen) Lesarten der Vergangenheit überbewertet worden ist, doch ist es kühn, zu behaupten,»die Ardenne-Geschichte« trage nichts zum Verständnis von Effi Briest bei und zu versuchen, dies ausgerechnet buchhalterisch mit Hilfe einer Art Gleichung nachweisen zu wollen.(Diese Gleichung geht auch nur scheinbar und um den Preis auf, dass das historische und das dargestellte Duell ausgeklammert werden, obwohl an späterer Stelle die Bedeutung des Duells argumentativ herangezogen wird.) Der Verfasser macht sich nicht die Mühe, den Romanschluss, der aus seiner Sicht ganz und gar unmöglich ist(195), zu verstehen und kommt entsprechend immer wieder
Heft
(2015) 100
Seite
106
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