108 Fontane Blätter 100 Rezensionen und Annotationen Insel,»die auf Karten einem Fisch gleicht«, verhandelt er das Wesen der Zeit:»Als ob die Zeit selbst hier ihre Richtung verlöre, umstrudelt sie die Insel, es vermischen Vergangenheit und Zukunft sich hier auf besondere Weise, denn zwar verbindet die Havel die Auen des Spreewalds mit denen der Elbe, gerade hier aber scheint ihr Wasser stillzustehen in einer Kette dunkler Seen […]« Im Zentrum des Romans steht Marie, mit vollem Namen Maria DorotheaStrakon(1800–1880), eine historisch belegte Bewohnerin der Pfaueninsel, auf der sie fast ihr ganzes langes Leben verbrachte. Nach dem Tod ihres Vaters, der in den Koalitionskriegen fällt, wird sie 1806 zusammen mit ihrem älteren Bruder Christian von der Großmutter als»königlicher Pflegling« Friedrich Wilhelm III. übergeben, der beide auf der Pfaueninsel im Haus des Hofgärtners Fintelmann unterbringt und Marie zum»Schlossfräulein« ernennt. In diese Stellung gelangen die Geschwister, weil sie etwas repräsentieren, was zu einer untergehenden, ja in den Stürmen der napoleonischen Kriege schon untergegangenen Welt gehört: Sie sind minderwüchsig, erreichen als Erwachsene eine Größe nicht mehr als 1,25 m, und stehen als Schützlinge des Königs in der Tradition der»Hofzwerge«, mit denen sich die an Kuriositäten interessierten Fürsten der Renaissance und des Barock gern umgaben. Beide werden die unterschiedlichen Seiten dieser Tradition kennenlernen, Aufmerksamkeit, eine großzügige Erziehung und eine gute Ausbildung werden ihnen zuteil, doch ebenso selbstverständlich wird von ihnen erwartet, sich anschauen, bestaunen, verdinglichen zu lassen und für spezielle erotische Dienste zur Verfügung zu stehen. Zunächst aber verschaffen ihnen die Zeitläufte eine paradiesische Kindheit: Die Königsfamilie ist nach Ostpreußen geflüchtet und lässt sich auf der Pfaueninsel nicht blicken, die, statt höfischer Lustgarten zu sein, zur Ernährung der Bevölkerung landwirtschaftlich genutzt wird. Die allmählich verblassende Erinnerung an Friedrich Wilhelm II. und seine Geliebte Wilhelmine Encke, Gräfin Lichtenau, verleiht dem Garten der Kindheit einen geheimnisvollen Zauber, ebenso wie ein zerbrochenes rotes Glas, von dem es heißt, der Alchemist Kunckel habe es hergestellt. Die Geschwister leben in enger Symbiose miteinander und, solange sie alle Kinder sind, auch mit Gustav, dem Neffen des Hofgärtners. Die Idylle endet, als der Hof nach Berlin zurückkehrt und einen frühsommerlichen Tag auf der Pfaueninsel zubringt. Es ist Königin Luise, die auf der Suche nach einem Ball ins Unterholz schlüpft, sich dort unvermutet Christian gegenübersieht und vor der aus seinem kindlichen Körper kommenden tiefen Männerstimme so sehr erschrickt, dass sie ihm das Wort»Monster!« entgegenschleudert. Von diesem Tag an ist der Zauber für Christian gebrochen: Er erkennt, dass Marie und er durch ihre Andersartigkeit alternativlos aufeinander bezogen sind, auch in ihrer Sexualität, während Marie, verliebt in Gustav und verunsichert durch dessen
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(2015) 100
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108
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