Heft 
(2015) 100
Seite
109
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Thomas Hettche: Pfaueninsel  Hehle 109 widersprüchliche Signale, die Hoffnung nicht aufgeben will, die Barriere ihres Andersseins lasse sich überwinden. Nach dem Ende der napoleonischen Kriege macht Friedrich Wilhelm III. die Pfaueninsel zu dem, was Fontane als Kind gesehen hat: einen öffentlich zugänglichen Wundergarten mit Menagerie, in den exotische Pflanzen, Tiere aus allen Weltgegenden Kängurus, Löwen und Affen und ›exoti­sche‹ Menschen transferiert werden. Mit dem von Lenné designten Wege­netz und seinem Rosengarten, der die natürlichen Ressourcen überfordert, so dass ein künstliches Bewässerungssystem angelegt werden muss, und schließlich mit dem von Schinkel geplanten Palmenhaus wird das Ausse­hen der Insel radikal verändert und einer neuen Ästhetik reiner Schönheit unterworfen, die sich jedoch als in ihrer Künstlichkeit gefährlich fragil er­weist. Die exotischen Tiere gehen fast alle zugrunde. Eines Tages wird Ma­rie in den abgesperrten Ruinen von Kunckels niedergebranntem Laborato­rium die verkohlten Kadaver entdecken. Sie selbst fällt mehr und mehr aus der von ästhetischem Experiment, Hegelscher Philosophie und techni­schem Fortschrittsglauben geprägten Zeit: Der Ekel, den Lenné vor ihr empfindet, und das voyeuristische Interesse, das die Fürstin Liegnitz, Friedrich Wilhelms III. zweite Frau, ihr entgegenbringt, kontrastieren aufs Schärfste mit der selbstverständlichen, wenn auch distanzierten Freundlichkeit, mit der ihr in ihrer Kindheit die alte Obersthofmeisterin von Voß begegnete. Marie versucht tapfer Schritt zu halten. Sie liest alles, sie spricht mit jedem, ob König, Tierwärter, Immigrant von den»Sandwich-Inseln« oder Wissenschaftler. Ihr kongenialer Gesprächspartner freilich ist ein fikti­ver: Peter Schlemihl, der eines Tages auf der Pfaueninsel auftaucht und ihr kubanische Zigarren offeriert. Noch immer glaubt sie daran, dass der Mensch in ihr für den Blick der anderen das Monster, das die Königin zu sehen meinte, überwiege. Noch immer glaubt sie an die Möglichkeit, von Gustav geliebt zu werden. Als diese Hoffnung sich endlich erfüllt, spitzt die prekäre Dreiecksbeziehung zwischen Marie, Gustav und Christian sich aufs Äußerste zu. Christian verliert sein Leben, Gustav entzieht Marie ihr gemeinsames Kind. Sie werden während Jahrzehnten auf der Pfauen­insel neben­einander leben, ohne mehr als seltene Bemerkungen von be­langloser Alltäglichkeit zu wechseln. Spät in ihrem Leben, mit Sechzig, ermutigt durch eine zufällige Be­kanntschaft, besucht Marie zum ersten und einzigen Mal Berlin. Fährt mit der Eisenbahn in die Stadt, kämpft sich in einer Droschke durch bis in die Linienstraße, ins Zentrum der frühen Berliner Industriebetriebe, und er­blickt unter dem Dröhnen der Maschinen in der Borsigschen Fabrik»Feu­erland«:»[] direkt vor sich sah Marie mächtige Ziegelhallen und hohe Schornsteine, dicht hintereinander gestaffelt, und durch all die Fenster­fronten und offenen Tore leuchtete es so feuerrot hervor, daß der Rauch,