Heft 
(2015) 100
Seite
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122 Fontane Blätter 100 Vermischtes 5 1963 veröffentlichte Michel Foucault seine Schrift Naissance de la Clinique (dt. München 1973 unter dem Titel Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks). Was sie diskutierte, lag vor Fontanes Jahrhundert, aber markierte dessen Schwelle. Ausgehend von dem Gedanken, dass Ende des Aufklärungsjahrhunderts Gesundheit an die Stelle des Heils tre­te, entwickelte Foucault ein folgenreiches Denkbild. In ihm erscheint die Medizin als eine Instanz, die»dem modernen Menschen das hartnäckige und beruhigende Gesicht seiner Endlichkeit vor[halte]«.»Die Gesten, die Worte, die Blicke des Arztes«, so weiter, hätten dadurch eine philosophi­sche Dichte gewonnen,»wie sie vorher vielleicht nur dem mathematischen Denken eigen war.« Ärzte wurden zu Philosophen, und in einer solchen Kultur würde»der philosophische Status des Menschen wesentlich vom medizinischen Denken bestimmt«. Der»Einbruch der Endlichkeit« schrieb Foucault, überschatte den Bezug des Menschen zum Tod, ermögliche»hier einen wissenschaftlichen und rationalen Diskurs« und schließe»dort die Quelle einer Sprache« auf,»die sich in der von den abwesenden Göttern hinterlassenen Leere endlos« 56 verströme. Man müsse sich also ein für alle Mal auf die Raum- und Sprachebene des Pathologischen begeben,»also dorthin, wo der beredte Blick, den der Arzt auf das giftige Herz der Dinge richtet, entsteht und sich sammelt.« 57 Es fehlt nicht an Indikatoren, dass sich diese hier nur anzudeutende Diskursrenovierung, wenn nicht-eta­blierung in die Erzählliteratur des dann folgenden 19. Jahrhunderts einge­schrieben hat. Walter Hettche hat in einer aufschlussreichen kleinen Stu­die nachgewiesen, in welchem Maße die Erzähler des poetischen Realismus »immer wieder Ärzte und Patienten als handlungstragende Figuren ge­wählt« haben und dass sie bei Fontane gar»eine entscheidende Rolle« 58 spielen. Bevorzugt seien es kranke und schwache Figuren, nicht kernige, deren Gesundheit ewig scheint. Das Licht des Endlichen falle auf sie, aber es sei ein neues, ein eigenartiges Leuchten, das von ihm ausgehe. Bei Fon­tane seien es die nervösen und kranken Frauen, jene, die»alle einen Knax« 59 weghaben. Dieser»Knax«, für den die Ärzte der Zeit verschwiemelte Schlagwörter wie Nervenfieber oder auch bloß»die Nerven« in Anschlag brachten, weil ihnen das Krankheitsbild dunkel war, koppelte Fontane als Folge einer Diesseitigkeit, die er mit»Echtheit und Natürlichkeit« 60 fasste. Keine Kunstprodukte, sondern Wesen im Jetzt. Stirbt Effi Briest, jenes er­zählerische Zauberwesen, auch ›eigentlich‹ an Lungentuberkulose, so ist ihre tatsächliche Todesursache in einem anderen Krankheitssymptom zu suchen. Es ist eben nicht zu fassen mit ›Gesellschaft‹ oder ›Umstände‹, tie­fer sitzt es und Fontanes Roman führt in diese Tiefe. Dabei konkurriert das Erzählen gerade nicht mit dem medizinischen Diskurs, in den es sich unter der Hand einmischt, sondern findet in Aussparung, Umschweigen und Leerstellen adäquaten Ausdruck. Die Ärzte in ihren wirkungsvollen