Fontane auf medizinisch-pharmazeutischem Terrain Berbig 123 Nebenrollen stehen gleichsam neben dieser Erzählrede und treten das Recht ab, das ihnen eignet. Hierbei verknüpft Fontane»historische Fakten und literarische Fiktion«, lässt Mediziner seiner Zeit ein kurzes Romanleben führen und erfundene Ärzte auftreten, als gebühre ihnen außerliterarische Wirklichkeit. Sie sind, wie etwa Geheimrat Rummschüttel in Effi Briest,»keine Leuchte seiner Wissenschaft« 61 , leuchten aber in Sachen verständnisvoller Menschlichkeit. Kreisphysikus Dr. Sponholz, auf den der alte Stechlin setzt, lässt seinen Patienten wegen einer Rheumaerkrankung der eigenen Frau im Stich und kurt in Italien. Mit dem von ihm inaugurierten Dr. Moscheles, einem jungen jüdischen Mediziner aus Gransee, betritt die neue, äußerst skeptisch beäugte und zuletzt verworfene neue Arztgeneration die Szene – und man weiß nicht, ob es das Sozialdemokratische oder die Herkunft ist, denen Stechlin, schon auf der Todesbahn, entkommen will. Und all die Arztfiguren, denen der Lesende begegnet, sind bitter nötig, denn»körperliches und psychisches Leiden« besitzt, wie Hiltrud Bontrup 2000 noch einmal in einer grundlegenden Untersuchung festgestellt hat,»eine große Präsenz.« 62 Hettche hat die Diskretion in Fontanes Beschreibungen mit dem Konzept des poetischen Realismus erklärt. Für die Krankheitsbilder, die Fontane am meisten faszinierten, blieb all diesen Figuren allerdings nicht viel mehr übrig als ein praktiziertes menschliches Maß. Jene Nervosität und neurasthenische Zustände, die Richard von Krafft-Ebing in einer kleinen Arbeit(Wien 1895) erläuterte, die weibliche Psyche und Physis in ihrer Mischgestalt sozial wie pathologisch deutete, sie reizte Fontane. Mit ihrer literarischen Behandlung griff er voraus, was etwa in der feministischen Forschung erst ein Dreivierteljahrhundert später gemutmaßt wurde: dass»die Krankheiten von Frauen und Frauenfiguren nicht mehr nur als Indikator für deren Leiden unter sozialen Bedingungen und Geschlechterverhältnissen« zu betrachten seien,»sondern in Krankheiten auch Möglichkeiten des Widerstands und der Abwehr« 63 ihren Ausdruck fänden. So begegnen wir Cécile oder Effi Briest, der wir ein Sterben an der»Lunge« nie ›geglaubt‹ haben. Die Zeichenhaftigkeit von Krankheit und Tod fällt uns ins Auge, wir lernen die kulturell kodierten Körperzeichen aus den Erzähltexten des vergangenen Jahrhunderts lesen. Der Tod, wie ihn Foucault in einen neuen Geltungsbereich verwies und die Endlichkeit im medizinischen Diskurs aufgehoben sah, büßte unter solchen Prämissen sein Entsetzen ein – oder konnte es doch. Beim alten Stechlin wie bei der doch noch jungen Effi. Ehe sich diese fast zum Ende hin noch einmal in die kühle Nachtluft setzt und von einem»Gefühl der Befreiung« beseelt wird, vermag sie Absolution zu erteilen: Es liege ihr daran, sagt sie der Mutter, dass Innstetten erfahre, »wie mir hier in meinen Krankheitstagen, die doch fast meine schönsten gewesen sind, wie mir hier klar geworden, daß er in allem recht gehandelt.[…] Laß ihn das wissen, daß ich in dieser Überzeugung gestorben bin.
Heft
(2015) 100
Seite
123
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