»Meine beiden Freunde: Goethe und Fontane« Muhs 39 Wirkung kommt, daß diese ununterbrochene Selbstdarstellung den Leser nicht nur fesselt, sondern ihm zum höchsten Genuß wird, so liegt hier ein einmaliges Phänomen der Menschheitsgeschichte vor. Denn wem sonst, wenn wir nicht gerade an einen Religionsstifter, an eine göttliche Persönlichkeit denken wollen, könnte es gelingen, nur durch die Bezogenheit all seines Wirkens auf sich selbst und sein Erleben seinen Werken eine einmalige Bedeutung zu verleihen? Was er nun, indem er sich selbst und sein Leben darbietet, Zeitgenossen und Nachlebenden übermittelt, ist durchaus kein System, keine Lehre, als ob er sagen wollte, so sollst du auch dein Leben hinbringen, obgleich sich Lebensweisheiten in tiefstem Sinne finden und man sie nützen könnte, eine Lebensphilosophie abzuleiten. Es wird vielmehr lediglich unternommen, dies Leben von allen Seiten, in allen seinen Stufen und in der Entwicklung der Anschauungen auszubreiten. Und in der Vollständigkeit, in der sich hier das Leben eines Menschen übersehen läßt, entsteht ein Bild, das nun die Gabe ist, die uns allen zuteil wird: es tritt in unsere Einsamkeit, in unsere Zweifel über Gott, Welt und uns selbst ein andrer Mensch und stellt sein Leben über das unsre und zeigt, daß wir uns abfinden müssen mit diesem Dasein und seinen Grenzen. Wohl ist es das Leben eines großen, edeln, an Gaben reichen Menschen, aber er nimmt nichts für sich in Anspruch, was über das menschliche Maß hinausgeht, keine göttliche Herkunft, keine Wunderkraft, keine besondere Verheißung, keine Freiheit von Sünd und Fehl und keinen geheimnisvollen Ausgang. Und darin gerade liegt wieder der Trost, den es spendet: ein Leben, wie es nun einmal dem Menschen gegeben ist, wird durchgestanden, mit reichstem geistigen Inhalt gefüllt, bringt Freuden und Leiden und – war doch so schön. So schön, weil es ein Mensch lebt, der wohl ringt, wie jeder andre, mit den tiefsten Problemen, herabsteigen will zu den Müttern, der aber immer sich wieder zurückfindet zur Forderung des Tages, dem, was seinem Denken und Schauen erreichbar ist, immer Neues und Beglückendes abgewinnt und in ständigem Bemühen hierum sein Genügen findet, ohne daran zu verzweifeln, daß dem Menschen unverrückbare Grenzen gezogen sind. Es ist also ein Vorleben eines Menschenlebens, ohne den Anspruch ein Vorbild zu sein. Nicht die Lehre eines Moralisten oder eines Frommen wird dargeboten, sondern schlechthin ein erfülltes Menschenleben. Er ist uns der Meister im Handwerk des Lebens, der Freund, der mit uns schreitet. Er begegnet unserer Beichte nicht mit dem Hinweis, dies oder das hättest du nicht tun dürfen, er spricht uns aber auch nicht von unsrer Schuld frei, sondern er erzählt uns von sich selbst, von seinen Anfechtungen und Verirrungen und weist dann auf den Weg, der unablässig weiterführt und den wir nicht verlassen dürfen. Auf diesem Wege begegnen große und größte Fragen, die nach Antwort heischen, aber auch Kleines und Kleinstes will nicht übersehen werden. Erst das Ganze ist die Welt, in der wir festzustehen und uns umzusehen haben.
Heft
(2019) 108
Seite
39
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