40 Fontane Blätter 108 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes Daß Goethe sich im Laufe seines Lebens selbst über diese seine Mission klar gewesen ist, kann nicht zweifelhaft sein. Was zunächst Bekenntnisse sind, mit denen er sich selbst freimachen will von den Erlebnissen und dem Druck einer Lebensstufe, die er überschreiten will, wird allmählich auch von ihm als wertvolles Hilfsmittel für den Lebenskampf anderer erkannt. Die Aufgabe, die er sich gestellt hat,»sich mit dem Schicksal in Einigkeit zu finden«, wird zu Lehre für andre:»Gedenke zu leben« ist das schlichte Geheimnis, das in Lotharios Turm sich Wilhelm Meister enthüllt. Und Zelter trifft das Richtige, wenn er von Wilhelm Meister in seinem Brief vom 27.1./20. 2. 1808 sagt,»es geht ins Blut des Lebens über, aus dem es genommen ist«. Es ist Goethe geradezu ein Bedürfnis, nicht nur sein eigenes Leben immer wieder auszubreiten und in allen Entwicklungsphasen darzustellen, sondern auch die Lebensläufe anderer uns vorzuführen: er übersetzt Benvenuto Cellinis Selbstbiographie, beschreibt[ ein Wort unleserlich] Leben, gibt Briefe von Winckelmann heraus. Zelter ist gleichsam sein Gesandter in Berlin, den er immer wieder auffordert, ihm über die Menschen in dieser betriebsamen Stadt zu berichten. Und Wilhelm Meister ist geradezu durchsetzt von Lebensbeichten: die»Bekenntnisse einer schönen Seele« sind eingeschaltet, und, wer auch immer in den Lebensgang Wilhelm Meisters eindringt, der erzählt sein Schicksal: Aurelie, Therese, Natalie, die Männer nicht minder[ Nachtrag am Rand: In den»Wanderjahren« ist es nicht anders. Unermüdlich ist er aber darauf bedacht, daß, soweit es nicht bereits seine Werke enthalten, die Nachwelt in die Lage versetzt wird, seinen Spuren überall zu folgen. Die Briefe werden gesammelt, den Briefwechsel mit Schiller gibt er selbst heraus, den mit Zelter sieht er durch und bestimmt ihn zur Veröffentlichung und weiß um Eckermanns Aufzeichnungen über die Gespräche, die er mit ihm führt. Die letzten Lebensjahre sind erfüllt mit dem Ordnen aller Notizen und Briefe, aller Sammlungen und Erinnerungsstücke.[ Nachtrag am Rand:»Wenn man der Nachwelt etwas Brauchbares hinterlassen will, so müssen es Konfessionen sein, man muß sich als Individuum hinstellen, wie man’s denkt, wie man’s meint, und die Folgenden mögen sich heraussuchen, was ihnen gemäß ist und was im allgemeinen gültig sein mag.«(Brief an Zelter vom 1. Nov. 1829)] Wie er sich selbst historisch ist, dafür ist vielleicht eine Stelle in einem Briefe vom 19. Januar 1802 an Schiller besonders charakteristisch, wo er ihm mitteilt, daß er in Jena, in Knebels alter Stube an einem weißen Fensterpfosten alles aufgeschrieben habe, was er, seit dem 21. November 1798, in diesem Zimmer von einiger Bedeutung gearbeitet habe. So kommt es denn, daß wir dieses vorgelebte Leben so genau kennen, wie kein andres irgendeines Menschen der Vergangenheit. Und das ist schon für sich allein ein köstliches Gut. Denn nur wenn wir im großen wie im kleinen den Ablauf eines Lebens uns vergegenwärtigen können, wird es uns zum Lebensbuch, das wir dem eigenen zur Seite legen können, aus dem wir in jeder Phase des
Heft
(2019) 108
Seite
40
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