»Meine beiden Freunde: Goethe und Fontane« Muhs 41 unsrigen nachschlagen können, wie eines Menschen Geist mit diesem Rätsel des Seins sich auszugleichen vermag. Es nützt dazu nichts, von den Taten großer Feldherrn und Staatsmänner etwas zu wissen. Sie zeigen nur einen äußren Ablauf. Für die Aufgabe, das Leben zu meistern, sagen sie uns nichts. Dazu bedarf es genauer Kenntnisse nicht nur der Lebensumstände, der Anlage und der Umwelt, sondern auch aller jener kleinen und kleinsten Einflüsse, Gemütsbewegungen und Anstöße, die im Tageslauf aus Wille und Zufall jenes vielfältige Gewebe herstellen, das wir Leben nennen. So ist Goethe selbst der erste Goethephilologe. Es ist ganz abwegig zu schelten, wenn die Goetheforschung auch am Kleinsten nicht vorbeigeht. Der einmalige Fall, daß wir ein Leben wirklich nahe kennen, macht es geradezu zur Pflicht, diese Kenntnis immer mehr zu vertiefen. Wie das geschehen kann, ohne in Plattheiten zu verfallen, zeigen die prachtvollen GoetheStudien Beutlers. 14 Und es ist außerordentlich erwünscht, wenn diese Forschungen immer weiter auch auf alle Zeitgenossen Goethes übergreifen, und so ein Bild der ganzen Epoche entsteht. Das ist auch von großer kulturwissenschaftlicher Bedeutung. Für uns heute Lebende ist es ein großes Glück, daß Goethe uns verhältnismäßig noch zeitlich nahesteht, daß er unsere Sprache – die er wesentlich mit bestimmt hat – spricht, daß seine Umwelt uns trotz aller technischen Zutaten, mit denen wir umgeben sind, uns noch nicht fremd ist. Es darf aber auch nicht verkannt werden, daß Goethes Zeit von entschiedenster Bedeutung für die Entwicklung bis zur Gegenwart ist. Er ist die Schwelle, über die wir in das 19. Jahrhundert eintreten, und eine Schwelle ist, so steht es in Wilhelm Meisters Lehrbrief, ein»Platz der Erwartung«. Die letzten Reste mittelalterlicher Gesellschaftsordnung sind noch nicht überwunden, Aufklärung und Revolution, von Romantik und Reaktion beantwortet, führen zu einer Zeitenwende. Der bürgerliche Mensch entsteht. Es ist, vielen Mißverständnissen gegenüber, gut, es sich zu vergegenwärtigen, wie Goethe sich in dieser sozialen Umwälzung verhält. Die mittelalterlichen Reste, von denen ich sprach, zeigen sich nicht so sehr in der deutschen Verfassung, die Goethe in den Wahl- und Krönungszeremonien des alten Reichs, in der Konstitution der freien Reichsstadt Frankfurt, in den zerrütteten Zuständen am Reichskammergericht, in dem Streit um Privilegien und alte Gewohnheiten vor uns entfaltet, nicht so sehr in der altertümlichen Bauart der Städte, wie in der Verfassung der Gesellschaft. Es ist die besondre Stellung des Adels, die dieser ihre Prägung gibt und die kaum noch umstritten ist. An der bekannten Stelle in Wilhelm Meister im 5. Buche stehen die fast verblüffenden Sätze, die die Grenzlinie zwischen Edelmann und Bürger ziehen. Nur dem Edelmann sei eine gewisse»allgemeine, personelle Ausbildung« möglich, nur er darf»überall mit einem stillen Bewußtsein vor seinesgleichen treten«, darf vorwärts dringen«,»er ist eine öffentliche Person« und hat daher Ursache, etwas»auf seine Person zu halten und zu zeigen, daß er etwas auf sie hält«. Der Bürger
Heft
(2019) 108
Seite
41
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