42 Fontane Blätter 108 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes dagegen gibt auf seine Persönlichkeit nichts, er soll leisten und schaffen, er kann recht tun und wirken. Er fragt nicht, was bist Du, sondern was hast Du,»welche Einsicht, welche Kenntnis, welche Fähigkeit, wie viel Vermögen?« Verletzt der Bürger diese Grenzlinie, so geht es ihm wie Werther, der aus der adligen Gesellschaft des Grafen weggewiesen wird. Und Schuld daran ist nicht»die Anmaßung der Edelleute« und die»Nachgiebigkeit der Bürger«, sondern die»Verfassung der Gesellschaft«. Nun, wir sind 150 Jahre weiter, und doch sind jene Reste einer gesellschaftlichen Verfassung nicht ganz verschwunden. Noch gibt es Kreise, die eine Heirat zwischen einem Adligen und einer Bürgerlichen als ein»äußres Mißverhältnis« empfinden. Noch zu meiner Zeit wurde erzählt, daß der Regierungspräsident v. d. Recke in Merseburg jährlich für die Mitglieder seiner Regierung zwei Gesellschaften gegeben habe, eine für die adligen und eine für die bürgerlichen Mitglieder. Aber diese»Verfassung der Gesellschaft« besteht nicht mehr in thesi, wie zu Goethes Zeiten. 15 Wichtig ist nun, daß Goethe es durchaus nicht für eine Aufgabe hält, diesen Zustand alsbald zu ändern, sich selbst dagegen zu stemmen. Denn das würde nur die eigne Entwicklung beeinträchtigen, es entspräche nicht der Forderung, eben dort das Höchste zu leisten, wohin das Leben den Einzelnen nun einmal gestellt hat. Er sieht offenbar auch, daß der bürgerliche Mensch noch garnicht soweit ist, um wirklich auf sich halten zu können. Er fürchtet die Lücke, die entstehen müßte, wenn in raschem Umsturz der Gesellschaftsverfassung der Edelmann seiner Aufgabe entkleidet wird, ohne daß der Erziehungsprozeß des geistigen Menschen vollendet ist. Gewiß, mancher der mit großen Gaben ausgestatteten bürgerlichen Menschen würde eine andre,»größere Entwicklung« genommen haben, wenn er in anderer Position hätte wirken können; so ist wohl das Wort über Zelter in dem Briefe an Schiller vom 5. August 1804 zu verstehen: Zelter hätte unter Päpsten und Kardinälen geboren werden sollen, anstatt jämmerlich auf diesem Sand nach dem Elemente seines Ursprungs zu schnappen. Aber am Gegebenen etwas zu ändern, ehe die Geschichte ihren Lauf genommen hat, würde nur Verwirrung stiften. Erst muß – so ist wohl Goethes Auffassung zu verstehen – das geistige Deutschland entstehen, und daran gilt es durch eigene Leistung und unablässige Anregung zu arbeiten. Es gibt über diese ganze Frage eine sehr interessante – vielleicht etwas überspitzte – Abhandlung(Name des Verfassers ist mir entfallen) in der Festgabe für Max Weber. 16 Aus diesen Überlegungen erklärt sich Goethes ex nunc oft getadeltes Verhalten zum Hof und zu den höhren Ständen. Daraus erklärt sich auch Wichtigeres: das Mißtrauen dagegen, daß das Volk sein Schicksal selbst in die Hand nimmt, daß Männer aus dem Volke beginnen, sich mit den politischen Fragen zu befassen, die bisher nur Angelegenheiten der Fürsten und ihrer adligen Berater gewesen waren. Ihn schreckt die Ungeklärtheit einer Entwicklung, die sich daraus ergeben muß und ja auch ergeben hat. Jedenfalls er will sich
Heft
(2019) 108
Seite
42
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