Heft 
(2019) 108
Seite
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»Meine beiden Freunde: Goethe und Fontane« Muhs 43 seiner Aufgabe, ein geistiges Deutschland zu schaffen, nicht entziehen las­sen und trägt den Vorwurf, daß er beiseite steht, als es gilt, ein neues poli­tisches Wesen heraufzuführen. Diese Position nimmt Goethe schon in sei­ner ersten Entwicklung ein: die Tendenz, in Theaterstücken und Romanen Fürsten und Adel herabzusetzen, sie als Bösewichte hinzustellen, lehnt er ab und zeigt in Goetz v. Berlichingen den adligen Streiter um Recht und Gerechtigkeit. Er gesellt sich dem Adel nicht als Standesgleicher, sondern als Aristokrat des Geistes kraft seiner Fähigkeiten und Leistungen und wahrt auch da, wo er sie alle unbestritten überragt, jene Grenzlinie, um gerade dadurch sich nie etwas zu vergeben. Mir scheint es wichtig, diese geschichtliche Bedingtheit in Goethes Lebensgang und Haltung sich ge­genwärtig zu halten, um nicht zu falscher Stellungnahme zu gelangen und auch hierin gerade wieder zu fassen, was Goethe unter Leben als Aufgabe versteht. Ein Wort noch zu Goethes Stellung zum Christentum und zur Religion. Sie ist viel weniger zeitgebunden als das Verhältnis zur gesellschaftlichen Ordnung. Das erklärt sich einmal daraus, daß es sich um ein geistiges Prob­lem handelt, dem auszuweichen oder dem gegenüber sich zu beschränken, der geistigen Aufgabe widersprochen hätte; weiter auch daraus, daß schon Goethes Zeit infolge der Entwicklung, die bereits vor ihm lag, keine Grenz­linie, wenigstens für die»geistige« Auseinandersetzung, mehr kannte. Der Unterschied zu heute besteht nur darin, daß der christliche Glaube viel stär­ker, als er uns geblieben ist, die Anschauungen des Volkes und in den höhren Ständen vor allem die Frauen und auch die Jugenderziehung beherrschte. Die Theologie kannte bereits mannigfache Strömungen. Neben dem[ Wort­anfang unleserlich]aberglauben und der vollen Bereitschaft, jede Variante für möglich zu halten, wie das bei Lavater der Fall ist, steht die Erkenntnis der Widersprüche in den biblischen Überlieferungen und der Versuch, sie miteinander in Einklang zu bringen, stehen bereits die Anfänge der Unter­suchungen über die geschichtliche Entstehung und Bedingtheit der einzel­nen biblischen Schriften. Gegenüber rationalistischen Auslegungen spielen mystische Gedankengänge eine Rolle, der Pietismus, insbesondere die Herrnhuter Richtung ist bedeutungsvoll. Daneben haben Aufklärung und Voltaires Gespött viele Gebildete zur vollen Ablehnung, ja zum Atheismus gebracht. Bei dem jungen Goethe bis hinauf in seine Mannesjahre ist ja zu­nächst eine überaus intensive Beschäftigung mit der Bibel und mit religiö­sen Fragen festzustellen.»Dichtung und Wahrheit« ist geradezu davon durchsetzt, aber auch in»Wilhelm Meister« kehren religiöse Fragen immer wieder. Goethe ist neben Luther vielleicht der bibelfesteste unter allen deutschen Schriftstellern, er beteiligt sich, in einigen kleineren Arbeiten so­gar unmittelbar, an Auslegungsfragen. Er betrachtet sich durchaus als Christ, nimmt nur für sich in Anspruch, sich eine eigene Vorstellung von Christus zu machen. Dabei tritt eins klar hervor, was notwendig mit der