Heft 
(2019) 108
Seite
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44 Fontane Blätter 108 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes ganzen Einstellung Goethes zum Leben und seiner Aufgabe zusammen­hängt. Die Lehre, daß der Mensch in seiner Natur völlig verderbt sei, er»auf seine eigenen Kräfte durchaus Verzicht zu tun und alles von der Gnade und ihrer Einwirkung zu erwarten habe«(»Dichtung und Wahrheit« 14. Buch), ist ihm unvorstellbar; der Mensch hat die Kraft und muß den Willen haben, sich strebend zu bemühen, dann wird die göttliche Gnade belebend und teilhabend wirksam(vgl. z.B. Faust II am Schluß). In der späteren Entwick­lung tritt, mit dem Einfluß der Antike, die Überzeugung immer mehr her­vor, daß der Mensch hier in dieser Welt seine Aufgabe zu erfüllen habe, und die Beschäftigung mit der»andren« Welt wird gleichsam als eine Gefähr­dung der Konzentration auf die Aufgabe, zu leben, zurückgedrängt. Die Er­kenntnis, daß das menschliche Denkvermögen in die höchsten Geheimnis­se nicht einzudringen vermag, führt zur Ablehnung aller Spekulation über überirdische Dinge. Gott ist das geahndete Wesen, die Ewigkeit nur als Fortsetzung in der Aufgabe der stufenweisen Ausbildung der Persönlich­keit vorstellbar[ Nachtrag am Rand:(vgl. die herrliche Stelle in dem Brief an Zelter vom 19. März 1827).] Immer bleibt aber die Ehrfurcht vor allem Reli­giösen durchaus feststehend, und nur jene Abneigung vor der Vorstellung des Kreuzes und des Gekreuzigten und gegen die ausschließliche Anschau­ung der Bestimmung des Menschen zum Leiden mag Goethe den Vorwurf antichristlicher Gesinnung eingetragen haben. Jene mehr aus der Ge­samtanschauung vom Leben und seiner Aufgabe[ Nachtrag am Rand: als aus ästhetischem Widerwillen] erklärbare Abneigung gegen das Symbol des Kreuzes ist vielleicht die einzige»Marotte«, die man bei Goethe finden kann. Interessant dafür ist ein Schema, das er für eine Feier des Reforma­tionsfestes auf Zelters Wunsch diesem mitteilt(Brief vom 10. Dezember 1816). Nach ausführlicher Vorstellung der Vorgänge im alten und neuen Testament durch Chöre und den Sprecher(in Form der Oratorien) wird die Kreuzigung[ Nachtrag am Rand: fast scheu] abgetan mit der Weisung an den Sprecher(Evangelisten),»kurze Erwähnung des physischen Leidens«. [ Nachtrag am Rand: In einem ersten Schema fehlt auch das, die Handlung geht vom Leiden am Ölberg unmittelbar zur Auferstehung über.] Daß mit dieser Ausschaltung des Vorganges der Kreuzigung auch das Dogma der Heilsgeschichte, der Erlösung durch den Opfertod Christi, ins Wanken kommt, ist klar. Aber höchst charakteristisch für Goethe ist der Schlußsatz jenes Schemas»das Irdische fällt alles ab, das Geistige steigert sich(!) bis zur Himmelfahrt und zur Unsterblichkeit«(vgl. den Schluß von Faust II). Im übrigen sei auf Sprangers Goethe-Abhandlungen 17 und Schaeders Ausfüh­rungen über die Religion Goethes in seinem Buch über den»West-östlichen Divan« hingewiesen. 18 Aus dem weitschichtigen, ja riesenhaften Werke Goethes zu dem un­lösbar auch die Briefe und Gespräche gehören die zu bezeichnen, die mir am nächsten gestanden haben, ist ein kaum zu rechtfertigendes Beginnen,