»Meine beiden Freunde: Goethe und Fontane« Muhs 45 denn es widerspricht der vertretenen These, daß es der Mensch Goethe ist, der uns wertvollstes Vermächtnis ist. Faust wird immer das gelesenste deutsche Buch bleiben, ja es hat – sicher nicht im Sinne Goethes – in breiten Schichten diesen Rang der Bibel abgewonnen. Von den Gedichten gehören einige wie zum unabdingbaren Besitz. Aber ich ging ja von dem Trost aus, den die Lektüre Goethes in schweren Stunden spendet und zwar, vom Inhalt zunächst abgesehen, durch die Art der Darstellung, durch den Stil. Es sind die»Wahlverwandtschaften« gewesen, die mir, wenn ich, vom Gang der Handlung eigentlich unberührt, las, vor allem in den ersten Kapiteln. Dann, im Hin- und Wiederblättern, der»West-östliche Diwan«. In letzter Zeit besonders hat mir der Briefwechsel mit Zelter im gleichen Sinn viel gegeben, wobei der Bewunderung des Großen sich ein weitres Stück hinzugesellt: wie hat er doch in dem Maurermeister aus dem»überlebendigen« Berlin, der noch dazu[zwei Wörter unleserlich] und eine Brille trug, nicht nur den Treusten der Treuen, sondern auch den ganz großen, bereiten Menschen herauserkannt, der wahrhaft des vertraulichen»Du« am würdigsten war. Doch nun zum anderen Freund und Tröster: zu Fontane. Darf man ihn im gleichen Atem nennen? Steigt man nicht hinab vom Titanen zum unterhaltsamen Romanschriftsteller? Nun, zunächst ging ich vom Trost aus, den er mir neben Goethe zu spenden wußte. Aber Trost – nicht bloß fesselnde Ablenkung – kann nur spenden, wer etwas zu geben vermag. Weiß Darstellungsart und Stil den Unruhigen ausgleichend, gleichsam freundlich zuredend, mitzunehmen, so kann es sich nur um eine Persönlichkeit handeln, die etwas zu geben hat, die etwas vermittelt, was Aufnahmebereitschaft findet. Es ist nicht, wie bei Goethe, die frohe Botschaft von einem Menschen, der sein Leben als ganzes trostvoll vor den durch sein Leben Bedrängten hinstellt und mahnt, im Leben selbst den Ausgleich zu suchen. Fontanes Arznei ist die Güte, das Verstehen. Er nimmt den Trost Suchenden freundlich bei der Hand: Komm, wir wollen zusammen zu Habel gehen – nebenbei, sieh da ein Blumenladen –, ich erzähle Dir von anderen, die auch von Schicksal und Schuld gedrückt waren, wie Du, und die ich verstehe, wie Du. Freilich, lossprechen von der Schuld kann ich Dich nicht. Man muß bezahlen in diesem Leben. Aber ich mache Dir auch keine Vorwürfe, ob das schlecht und falsch war, was du getan hast, darüber urteile ich nicht – das ist ein weites Feld. Aber es bleibt schon noch was, man muß darüber hinwegkommen. Und dann erzählt er, wie die Menschen leiden, weil sie zu wenig Liebe finden und zu wenig selbst Liebe zu geben vermochten, weil eben die Lebensumstände mächtiger waren als sie. Aber das ist kein schwaches Gehenlassen. Ausweglos ist das Leben nur, wenn Dekadenz und willenslähmende Krankheit zum taedium vitae führt, wie beim hörigen Grafen in»Stine«, oder das Leben einen Menschen wirklich ganz falsch geführt[hat], wie in»Cäcilie«, oder die angeblich fromme Sicherheit den Weg versperrt, wie
Heft
(2019) 108
Seite
45
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