»Meine beiden Freunde: Goethe und Fontane« Muhs 47 deutsche Literatur wird bereichert durch zwei Mittel der Darstellung: die Milieuschilderung und den Humor, wobei freilich das Absinken in krassen Naturalismus und jüdisches Witzeln bereits vor der Tür stehen. Niemand nach ihm hat jedenfalls den prachtvollen humorgesättigten Ton wiedergefunden, der Fontanes Schilderungen durchzieht. Die Menschen unterhalten sich so leicht, so ungezwungen und so lebensnahe, daß vielen die hohe Kunst gar nicht bewußt wird, die in Fontanes immer wieder durchgearbeiteten und gefeilten Darstellungen liegt. Wo gibt es in der deutschen Literatur Ebenbürtiges etwa zu den Gesprächen der Oberlehrer in Jenny Treibel oder in der Schilderung des Besuches im adligen Frauenstift im Stechlin oder des Zusammenseins der Cavaliere mit ihren Damen in Hankels Ablage (vor allem im Abstand von der vorhergegangenen Liebesidylle). Wo ist in den Romanen der ganzen Welt ein Plauderer wie der alte Stechlin?[ Nachtrag am Rand: Wo eine feinsinnigere Darstellung wie die des Abschiedsbesuchs beim Vater?] So ist Fontane nicht nur mir ein besonderer Freund. Ich zähle ihn durchaus auch zu den Großen unsrer Literatur.[ Nachtrag am Rand: Er kann sich neben Dickens behaupten.] Übrigens: man sollte sich endlich einmal abgewöhnen, ihn ganz, oder gar nur in der ersten Silbe seines Namens, französisch auszusprechen. Es ist auch ein Unsinn, seine Plauderei als durch Abstammung nach Deutschland verschlagene Konversation anzusprechen. Sie ist deutsch, denn sie hat vor allem Gemüt. Sie ist Berlinisch, man vergleiche den alten Zelter. Frage ich auch bei Fontane, welches seiner Werke mir am meisten gegeben hat, so scheiden die Balladen und Gedichte aus, wenn auch einige der Balladen und die besten der vaterländischen Gedichte ihren Platz behaupten werden. Der von Petersen herausgegebene Briefwechsel mit Lepel ist eine Kostbarkeit; die Theaterkritiken müssen»genossen« werden. Alles Autobiographische und die Briefe sind reich an kulturgeschichtlich Interessantem und enthalten manche Köstlichkeiten, ebenso wie die Wanderungen. Aber der große Tröster ist Fontane in seinen Romanen. Stechlin ist vollendet, Effi Briest der beste Roman deutscher Litteratur, Stine ein Meisterstück von Feinsinn. Aber mir sind immer»Irrungen und Wirrungen« als dasjenige erschienen, was Fontanes Auffassung von Gang und Aufgabe am besten zeigt. Die schlichte Gewißheit, mit der Lene ihr Schicksal meistert, darin liegt die Lebenslehre, die Fontane geben will. In Jenny Treibel, dem kulturgeschichtlich wertvollsten Roman, wird hie und da die Grenze der Satire überschritten. So nehme ich denn jetzt Abschied von diesen beiden Freunden und danke ihnen für Trost, Erhebung und Lehre. Ich vermache diese Freundschaft meinen Kindern. Fontane, das weiß ich, begleitet sie schon jetzt. Die Zeit wird kommen, da sie den ganzen Goethe verstehen lernen. Mag er ihnen »ernst und heiter« die Hand reichen, bis sie»vom Weltgeist gerufen, in den Aether zurückkehren«.
Heft
(2019) 108
Seite
47
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