Heft 
(2019) 108
Seite
68
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68 Fontane Blätter 108 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte das Leben begann, wo es mit einer Wendung von Uwe Johnson gelernt wurde, in Landschaften, an Orten, an Gewässern. 12 War dem Diaristen entfallen, dass er schon acht Jahre zuvor einen Ent­wurf»Knaben-Erinnerungen« skizziert hatte? Dem Ich in den Tagebüchern und privaten Aufzeichnungen haftet ein Zug zur Selbststilisierung an. Das ist nicht ungewöhnlich, gehört jedoch erwähnt. Jenes Vorhaben hatte da­mals, 1884, unter dem Arbeitstitel»Sommers am Meer« gestanden, Walter Keitel veröffentlichte die im Privatbesitz befindliche Handschrift 1966. Nur Stichworte hatte Fontane notiert, die aber sogar durchnummeriert, kurze Passagen, markante Momente einer Kindheit in Swinemünde. Selbstverge­wisserung, was einmal war, was Knabenkindheit war, und zwar seine eige­ne. Doch: Verklärendes Licht fehlt. Da war gleich bei Ankunft ein»Sarg«, die »frühsten Erinnerungen, die folgten auch nicht angenehm. Mörder Moor«, »Hinrichtung« und»Entsetzen. Grauen« nur»Mein Vater als Held« hob sich ab. Daneben steht das Selbstbild von einem»sehr encouragierte[n] Kind« 13 , das die schwere Erfahrung»eine[r] gestürzten Größe« 14 , die es mal war, zu verkraften hatte und als Glück erfuhr, aus jener Lebenswelt fortzukommen. 15 Die Entwurfsblätter waren liegen geblieben wie der dunkle Schatten auf den Kinderwegen. Fontane scheint die Skizzen für Meine Kinderjahre nicht ge­nutzt zu haben. Nun wollte er Anderes. 1893 war Fontane mit seinem Kindheitsbuch fertig. Er nannte es im Un­tertitel»Autobiographischen Roman«, um Zweiflern an der»Echtheitsfrage« zuvorzukommen. Ein Vorwort betrieb gezielt Leserlenkung. Es sprach von der»Vorliebe fürs Anekdotische« und bekannte sich zur»Kleinmalerei« 16 . Wer so die Lichter steckte, wünschte sich eine Leserschaft so wohlgesonnen wie arglos. Den Herausgeber der Deutschen Rundschau, Julius Rodenberg, schreckte Fontane mit der Warnung vor»Weitschweifigkeit« 17 erfolgrei­cher als gewollt ab. Der nämlich nahm Abstand von einem Vorabdruck. Doch immerhin lancierte Fontane in seinem»Vorwort« auch die These, ei­nem verstorbenen Freund»(noch dazu Schulrat)« in den Mund gelegt»in diesem ersten Lebensjahre ›stecke der ganze Mensch‹«. So dürfe»vielleicht auch diese meine Kindheitsgeschichte als Lebensgeschichte gelten« 18 . Die forschende Nachwelt sah sich ermuntert, Meine Kinderjahre als ver­heißungsvolle Wortlandschaft zu nehmen, in der Fontane-Spuren versteckt seien, die zu seinem»Geheimnis« führten. Denn ein Geheimnis witterte man bei ihm und wittert es noch heute. Jenes Nebenher des Beplauderns weckte Neugier nach dem Eigentlichen, nach dem Kern, nach, wie es eine Forschungsphase lang hieß, dem Wesen. Oder hatte Fontane mit den Kin­derjahren doch eher»etwas Zeitbildliches« angestrebt, nämlich»das Bild einer kleinen Ostseestadt aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts und in ihr die Schilderung einer noch ganz von Refugié-Traditionen erfüllten Französischen-Kolonie-Familie, deren Träger und Repräsentanten meine beiden Eltern waren« 19 ? So steht es im Vorwort. Ein Landschafts- und Her­