Heft 
(2019) 108
Seite
69
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Fontane und Fontane  Berbig 69 kunftsbild also, in dem das Ich aufgeht und gleichzeitig Randfigur wird, nötig, um zu erzählen, nicht erzählt zu werden? In der Entwurfsskizze von 1884 findet sich zur Kolonie-Verwurzelung kein Wort, in Meine Kinderjahre rückt es an die prominenteste Stelle: an den Anfang. Dort hebt der Erzähler auf diese Weise an:»An einem der letzten Märztage des Jahres 1819 hielt eine Halbchaise vor der Löwen-Apotheke in Neuruppin, und ein junges Paar[] entstieg dem Wagen[] Der Herr[] war erst dreiundzwanzig, die Dame einundzwanzig Jahr alt. Es waren meine Eltern.« 20 Narrative Signa­turen durch und durch. Doch kaum haben wir uns auf das Rhapsodische eingestimmt, wechselt die Tonlage, beinahe abrupt. Unversehens stecken wir in zwei biographi­schen Skizzen, die gut und gerne in einem populär verfassten Personenlexi­kon ihren Platz haben könnten und zwar einem über hugenottisch-stäm­mige Preußenfamilien. Unter der Hand vollzieht sich eine autobiographische Nobilitierung: Der Großvater väterlicherseits, Pierre Barthélemy Fontane (1757–1826), wird nicht nur als Maler und Zeichenlehrer, sondern als»ein sehr gutes Französisch« sprechender»Kabinettssekretär« im»persönlichen Dienst« 21 der preußischen Königin Luise ausgewiesen. Als das niederge­schrieben wurde, war die Frühverstorbene längst Lichtgestalt und Legende, eine mythisierte Nationalikone, preußisches Gegengewicht zu Napoleon Bo­naparte. So bedacht der Erzähler bleibt, Herkunftslichter dieser Art gleich wieder abzudunkeln, so hell blitzen sie auf und leuchten fort. Und wie er französisches Licht auf seine Ahnengalerie fallen lässt, so verknüpft er deren Personage, wie beiläufig, mit dem Diskurs akademisch nicht beglaubigter, aber belastbarer Bildung. Sie war, wie etwa im Falle des porträtierten Va­ters, erworben aus Konversationslexika, Journalen und Zeitungen und si­cherte ihm»eine offenbare Überlegenheit über die meisten damals in klei­nen Nestern sich vorfindenden Ärzte, Stadtrichter, Bürgermeister und Syndici[]« 22 . Der Erzähler versäumt nicht, einzuflechten, dass dabei die beiden Kardinaltugenden gesunder Menschenverstand und Lebekunst »in unserer Haussprache[] ›bon sens‹ und ›savoir faire‹« 23 hießen. Man sprach französisch aus, was sozial schillerte und gleichzeitig distinktive Geltung verschaffte.»[] in den romanischen Ländern sind alle Menschen mehr oder weniger Kunstmenschen und haben ein natürlich Gefühl für das was schön ist in den Fingerspitzen.« 24 So an Friedlaender 1891. Von jener Geltung ging ein seltsamer Glanz aus, den der Erzähler liebe­voll umschreibt, so liebevoll, dass man in ihm ein Selbstwunschbild vermu­tet. Zu diesem Selbstbild gehört auch, was er der Mutter, Tochter des Sei­denkaufmanns und Firmeninhabers Labry, attestiert:»Charakter«, verse­hen mit dem Zusatz»auf den doch immer alles ankommt«. Durch ihn sei sie »dem ganzen Rest der Familie, der damaligen wie der jetzigen, weit überle­gen« gewesen. Und weiter:»Ihre ganze südfranzösische Heftigkeit« habe »mitunter geradezu ängstliche Formen« angenommen und sich, darin ganz