70 Fontane Blätter 108 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte calvinistisch, gegen»Pflichtverletzung und unsinnige Lebensführung« 25 empört.»Wäre sie im Lande geblieben«, so soll Fontanes Vater, halb im Ernst, halb im Scherz gesagt haben,»so tobten die Cevennenkriege noch.« 26 Die lagen immerhin mehr als einhundert Jahre zurück(1702-1705). Man kam von weither und machte davon einiges her. Unübersehbar: Die erzeugten Bilder von Vater und Mutter werden in tief-französischen Farben gemalt, aus deren Effekten ein Seinsgemisch von Herkunft, Bildung, Haltung und Erscheinung entsteht.»[…] von Jugend auf bin ich daran gewöhnt, als etwas nicht ganz Alltägliches angesehn zu werden« 27 , schreibt Fontane 1876 an Mathilde von Rohr. Vater wie Mutter attestierte er, was offenbar eigener Lebensimpuls war: Teilhabe an voraussetzungsloser Reputation durch Herkommen und Verwandtschaft. Man war etwas. Wo das die»kolonistische Stammtafel« nicht hergab, so der Erzähler in Meine Kinderjahre, habe man»nach vornehmen Vetterschaften« gesucht, die»in der alten Heimat zurückgeblieben, sich mittlerweile zu Ruhm und Ansehn emporgearbeitet« 28 hatten. Nicht alltäglich sein, über dem Durchschnitt liegen, Wert zu besitzen und Anspruch auf Wertschätzung zu haben: Das war Wesenszüge der Eltern, die dem Sohn wesentlich blieben. Doch ehe der Lesende sich in Mutmaßungen verliert, inwieweit das Ich hier sogar ganz entschieden im Elternprofil ein Eigenbild entwirft, verwandelt es sich wieder in einen Erzähler, leichthin plaudernd. In Fontanes Romanen heißt es dann, vergleichbar,»unter solchen Gesprächen[…]« oder»während man noch so plauderte« 29 – und man tut gut daran, das da gerade beiläufig Geredete besonders ernst zu nehmen. So auch hier. In den Elternporträts verdichten sich Ich-Figurationen. 3 Wir sind wieder zurück an unserem Ort und seinen Koordinaten. Sie verbinden, behutsam konstruierend, die Gascogne und die Cevennen, Toulouse und Montpellier mit dem elterlichen»unverfälschten Kolonistenstolz« 30 . Erinnern wir noch einmal den 25. September 1870, Pfarrer Auguste Fournier hält seine Abschiedspredigt. Hörte sie Fontane in der Kirchbank? Wir wissen es nicht. Wenn ja, dann allein. Seine Frau zwang eine Halsentzündung, das Bett zu hüten. Und er selbst saß so gut wie auf gepackten Koffern. Schon zwei Tage später reiste er gen Frankreich –und zwar in ›vaterländischem Auftrag‹. Es galt,»die Schlachtfelder zu besuchen und den ›Pariser Einzug‹, den man[…] für nahe hielt, mitzumachen« 31 . Wie die beiden vorangegangenen Kriege – 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich – beabsichtigte Fontane, auch diesen dritten zu schildern, nicht als Militärexperte, sondern als patriotischer Sachbuchautor:»alles steht ein drittes Mal im Felde, so denn auch wir.« 32 Das entsprach seinem publizierenden Selbstverständnis seit etwa einem Jahrzehnt. Er verstand sich als vaterländischer Schriftsteller. 33 Diese Farben, ideell und ideologisch, trugen die märkischen Wan-
Heft
(2019) 108
Seite
70
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