Heft 
(2019) 108
Seite
74
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74 Fontane Blätter 108 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Im Moment unseres Eintretens erhob sich der Greffier[frz. Protokoll­führer], nahm die Lampe, schlug den Schirm zurück und schritt uns entgegen. Ich war wie vom Donner getroffen; das leibhaftige Ebenbild meines Vaters stand vor mir. Wir schrieben den 5. Oktober; vor drei Jahren, fast um dieselbe Stunde, war er gestorben; hier sah ich ihn wieder,[] im Auge selbst jene Mischung von Strenge und Gutmütig­keit, wie sie ihm eigentümlich gewesen war.[] 48 Im Vaterland seiner Vorfahren begegnete ihm sein Vater: als Revenant, als Wiedergänger. Ja, mehr noch: Die Begegnung fiel auf dessen Todestag, der auch der Todestag des Großvaters war. Genau an diesem Gedenktag erlebte der Sohn seine Wiedergeburt. Damit war das Bild ausgereizt. Erfunden oder nicht, bezeugt oder nicht. Was täten wir lieber, als diese Szene für wahr zu nehmen. Sie passte und passt sich ein in die Geschichte des Ich und seines Erzählers. Historisches und Ästhetisches vermischen sich. Über den Wahrheitsgehalt entscheidet das Ich, das längst literarische Gestalt angenommen hat. 5 Fontane und Fontane, und erneut: Fontane und Frankreich. Vor der Ära, die seinen eigentlichen schriftstellerischen Rang begründete, war die Ver­gegenwärtigung von Französischem gelagert, in der Eigenstes wurzelte, ohne sich offenbaren. Der im patriotischen Sinne unterlegene Kriegsfeind wurde persönlich als überlegen und lebensbewahrend erfahren. Wo das Vaterland triumphierte und der Erzähler stand nicht an, mit Preußen die Freude über diesen Triumph zu teilen, da fand Fontane in den beiden Bü­chern Kriegsgefangen und Aus den Tagen der Occupation, alle Abschattie­rung eingerechnet, zu einem sich befreienden und sich entdeckenden Ich­Erzähler. Er erfuhr als französischer Kriegsgefangener den Respekt, den sein Autor verdient glaubte. Die erwogen, ihn hinzurichten, gewährten ihm einen Aufstieg ihm wurde ein Bursche zugeteilt, Festungskommandanten empfingen ihn, Priester rangen um seine Seele. Sie behandelten ihn ritter­lich. Die ihm politisch-patriotisch misstrauten, trauten ihm persönlich über den Weg. Diese Leserschaft kannte, wenn sie ihn kannte, Fontane bisher als Wan­derer, der märkische Landstriche in poetische und historische Landschaf­ten veredelte. Dafür musste kein Innenleben nach außen gekehrt werden. Der eigene Status war selbsterklärend. Ganz ähnlich verhielt es sich mit dem Autor der Kriegsbücher. Nun lag es anders, gravierend anders. Aus dem Beobachter musste ein Selbstbeobachter werden, die Figur am Rande rückte ins Zentrum. Von dem man Mitteilungen über Mark und Militär ge­wohnt war, er teilte sich selbst mit. Jener Ort im Bewusstsein, der»einer Person die Mitte« zusammensetzt, in dem, wie es in einer Erzählung Uwe Johnsons heißt,»der einzelne Mensch das Wort ich zu denken wagt, das