78 Fontane Blätter 108 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Mit jenem»Ich bin frei« 71 – so an Emilie am 24. November 1870 noch aus dem Chateau Isle d´Oléron – entfaltet sich eine schriftstellernde Befreiungsbewegung. Fontane löste sich aus einem Schreibprogramm, das auf Preußen, Militär und märkische Heimat geeicht war. Er gab dem Erzähler, den er in sich entdeckt und dem er in den beiden Frankreich-Büchern Gestalt verleih, einen Freipass. Wie ein Hasardeur, der alles aufs Spiel und eine Farbe setzt, gestattete Fontane diesem Erzähler Redefreiheit: in seinen Theaterkritiken als einem Testlauf, im letzten Kriegsbuch als schwierigste Bewährungsprobe und endlich in einem Erzählwerk, das bei allen Brücken zu Vorangegangenem ein einziges Brückensprengen war. Und er erkannte – auch da hatte er seit den Wanderungen einschlägige Erfahrungen –, dass sein eigentliches Schreib-, Durchsetzungs- und Geltungsmedium der Brief war. In ihm entwarf er ein Ich von einzigartigem Kunstrang und damit das Medium neu. Es brauchte den Vergleich weder mit Chamisso, noch der Droste oder Gottfried Keller zu scheuen. Von Paul Heyse ganz zu schweigen. Briefe wurde die Stecklinge in einem Boden, der das eigene literarische und individuelle Sein zu überdauern versprach und dem Geschriebenen Bleiberecht sicherten. Die Briefwelt Fontanes ist ein universaler Raum. Der hier agierte, schritt Himmel und Hölle aus, war pontifikal und profan, dies vor allem, nüchtern, unsentimental, brach Tabus und blieb konform, solang er´s wollte, probierte den radikalen Demokraten und verharrte im Konservativen. Nichts, was nicht das Zeug hatte, Gegenstand in diesem Schreibkosmos zu werden, und nichts, was ungeeignet war, dem Ich Profil und Kontur zu verleihen: individuell und universell. Eine durch und durch literarisierte Figur, die erhob und verklärte, realistisch gesonnen und rhetorisch versiert – und die doch allem Anschein nach bar jedes schriftstellerischen Aufputzes war: ganz so als käme sie aus dem Alltag, in den sie zurückwies, dem sie aus der Hand las und die Hand hielt und in dessen Hand sie sich aufgehoben wusste. Wenigstens ein Zitat soll veranschaulichen, was man sich unter dieser Briefschreibhaltung vorzustellen hat: Temperament und Geschmack spielen[…] eine große Rolle und wenn ich nach Temperament und Geschmack so geartet bin, daß ich mir unsympathische Personen, darunter auch Schwiegermütter, Schwäger, Vettern und Muhmen, lieber gehen als kommen sehe, so bin ich damit im Recht, ja mehr im Recht als diejenigen, die, voll feinen und vornehmen Sinnes, dem Familiencultus und schöner Gastlichkeit huldigen und jedem Gaste der kommt nicht blos ein Lamm schlachten, sondern auch gleich noch den Mann dazu.[…] Das»Ich« zu opfern ist etwas Großes, aber es ist eine Spezialbeschäftigung, Vorstufe zur Heiligkeit oder schon die Heiligkeit selbst, ein Etwas, das man bewundert, danach man aber unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht leben kann. Dazu gibt es besondere Anstalten: Klöster, Wüstenhöhlen, Lazarethe, Hospize. 72
Heft
(2019) 108
Seite
78
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