156 Fontane Blätter 108 Rezensionen Zurückhaltung, wo es darum geht, politische Schlangenlinien zu rekonstruieren; in Fontanes kaum mehr nachvollziehbarer Polemik beispielsweise gegen George Sand oder gegen den Dresdner Historiker Karl Eduard Vehse, der(nach Vorbildern aus Amerika, England und Frankreich) neue Bildungseinrichtungen für Frauen auch auf deutschem Boden propagiert hat, oder aber auch in seiner offenbar ganz mühelosen Kehrtwendung vom konservativen zum liberalen Feuilleton. Höchste Wertschätzung zum anderen. Keine Rechthaberei aus der Perspektive der Nachgeborenen; wo es ihr angemessen scheint, dort erweist Dieterle dem Autor den gebührenden Respekt, macht sie in souveräner Manier verständlich, warum er schon zu seiner Zeit die jungen Kritiker, allen voran Otto Brahm und Paul Schlenther, überzeugt hat und warum er nach wie vor in aller Welt seine Leser/innen findet. Es versteht sich, dass man über einzelne Passagen und Deutungen trefflich streiten könnte. Wer kann schon entscheiden, ob Professor Schmidt, eine der zentralen Figuren in Frau Jenny Treibel, tatsächlich in erster Linie als ein verstecktes Selbstporträt zu sehen ist(wie Dieterle es sieht und wie das seinerzeit schon Schlenther vermutet hat) oder ob diese Figur am Ende doch auch weiter verweist auf den Literaturwissenschaftler Erich Schmidt, der seit 1887 eine Professur für deutsche Sprache und Literatur an der Friedrich-Wilhelms-Universität innehatte und später maßgeblich dazu beitrug, dass die Philosophische Fakultät der Berliner Universität Fontane kurz vor seinem 75. Geburtstag die Ehrendoktorwürde verleihen sollte? Über derartige Kopfnüsse und etliche ähnlich gewichtige Preisfragen darf man weiter diskutieren. Doch alles in allem, die bedächtigen Beobachtungen der Verschiebungen und Überblendungen zwischen den journalistischen und den autobiographischen und den(im engeren Sinne) literarischen Arbeiten Fontanes, die Interpretationen der unverwechselbaren Kennzeichen seiner Erzählungen und Romane, namentlich auch das Kapitel über den Stechlin, den Dieterle ganz besonders schätzt und mit Blick auf das poetische Verfahren des Romans»auch als großes Plädoyer für die Pressefreiheit« liest, alle diese Hauptakzente einer rundum imponierenden Publikation(die ganz selbstverständlich sich auf eine wohlfundierte Kenntnis der wissenschaftlichen Literatur stützt) instruieren: Ein Standardwerk ist hier anzuzeigen, eine nicht zuletzt auch in ihrer sprachlichen Prägnanz ungemein eindrucksvolle Biographie, die unter die Highlights der FontaneForschung einzureihen ist. Auch die Fontane-Biographie von Hans Dieter Zimmermann kippt an keinem Punkt unmotiviert um zu einer Hagiographie; und sie bleibt doch, ja gerade deshalb, so wie schon die Darstellung von Regina Dieterle, von der ersten bis zur letzten Seite eine charmante Einladung zu einer Re-Lektüre der vielschichtigen, auf kreative Lektüre hin angelegten Arbeiten Fontanes.
Heft
(2019) 108
Seite
156
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