22 Fontane Blätter 104 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes Auch die zweite Perspektive, die Fontane einnimmt, zeugt von strategischer Abgeklärtheit, ja von Ernüchterung angesichts der Berliner Presselandschaft im Allgemeinen(und, so ist zu vermuten, des alten Arbeitgebers Kreuz-Zeitung im Besonderen). Denn mit dem Blick des Routiniers bezichtigtFontane die Berliner Zeitungen – die ›eigene‹, also die Vossische ausgenommen – einer gänzlich unidealistischen»Haltung«: Noch nicht einmal unterschiedliche Ansichten über das Ideal der Pressefreiheit sind es in seinen Augen, die die mangelnde Unterstützungsbereitschaft für Brahm erklären, sondern schlicht»Hass und Neid« gegenüber der»Vossin«. Hier spricht einer, der seine Lektionen im Zeitungs-Business und im kritischen Gewerbe gelernt hat und dem dabei die Illusion, in diesem Geschäft ginge es um Sachfragen oder gar um journalistische Werte, spürbar abhandengekommen ist. Man kann es auch anders formulieren: Was Fontane in diesen Zeilen an den jungen Kollegen Brahm zwar nicht entfaltet, aber doch durchscheinen lässt, ist eben auch eine scharfsichtige Analyse des Kritikerhandwerks in Zeiten der Massenmedien. Was Pierre Bourdieu mehr als ein Jahrhundert später in seiner Kunstsoziologie entwickeln sollte, 29 dass nämlich auch das Feld der Kunst nicht frei ist von einer eigenen symbolischen Ökonomie, dass auch dieses Feld mithin unter Marktbedingungen operiert und also zum Schlachtfeld werden kann, auf dem der Kampf um Anerkennung und Vorherrschaft tobt – das scheint Fontane im Prinzip bereits durchschaut zu haben. Friedrich Fontane wollte davon nichts wissen, er konnte es wohl auch nicht. Ihm ging es bei seinen Bemühungen als Erbe, Nachlassverwalter, Herausgeber um jenen Fontane, von dem Hans Blumenberg einmal gesagt hat, ihm sei es gelungen,»gerade noch ›Klassiker‹ zu werden«. 30 Der Fontanehingegen, der sich mit dem bisher ungedruckten»Extrablatt« an Otto Brahm wandte, ist gerade kein Klassiker mehr, sondern ein Moderner – vertraut mit dem kommerzialisierten Theaterbetrieb wie mit den auflagenorientierten Massenmedien, und das heißt auch: vertraut mit den gänzlich unidealistischen, also klassizitätsfernen Logiken dessen, was man früher ›Kulturindustrie‹ genannt hat. Dass Fontane diesen massenmedialen ›Markt‹, diesen ›Betrieb‹, diese ›Industrie‹ durchschaute, wie das »Extrablatt« an Otto Brahm vor Augen führt, macht ihn heute umso interessanter. – Friedrich Fontanes Urteil, seines Vaters Bemerkung zum »Brahm-Fall«»interessier[e] heute keine Katze mehr«, muss jedenfalls, mehr als ein Jahrhundert später, mit Nachdruck revidiert werden.
Heft
(2017) 104
Seite
22
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