»Die Welt ist eine Welt der Gegensätze« Krobb 37 Schwester. Das Gespräch dreht sich um das»Grauen« und den»Dämon«, die Cécile ungemildert belasten. Der Sprecher ist der Hofprediger Dörfel, den die Leser kurz vorher als geistlichen Beistand Céciles kennengelernt haben: »Ich weiß es wohl, was diesen Ihren beständigen Zweifeln zugrunde liegt, es ist das, daß Sie, vor Tausenden, in Ihrem Herzen demütig sind. Und diese Demut soll Ihnen bleiben. Aber es ist doch zweierlei: die Demut vor Gott und die Demut vor den Menschen. In unserer Demut vor Gott können wir nie zu weit gehen, aber in unserer Demut vor den Menschen können wir mehr tun als nötig. Und Sie tun es. Es ist freilich ein schöner Zug und ein sicheres Kennzeichen edlerer Naturen, anderen besser zu glauben als sich selbst, aber wenn wir diesem Zuge zu sehr nachhängen, so verfallen wir in Irrtümer und schaffen, weit über uns selbst hinaus, allerlei Schädigungen und Nachteile. Damit sprech´ ich dem Hochmute nicht das Wort. Wie könnt´ ich auch? Ist doch Hochmut das recht eigentlich Böse, die Wurzel alles Übels, fast noch mehr als der Geiz, und hat denn auch die Engel zu Fall gebracht. Aber zwischen Hochmut und Demut steht ein drittes, dem das Leben gehört, und das ist einfach der Mut.«(259) Was in dieser Passage mit dem – wieder dichotomisch gedachten – »zweierlei« der Autoritäten benannt ist, ist eine Kluft zwischen den beiden Instanzen, die als Resultat der Modernisierung und Säkularisierung angesehen werden muss, welche verschiedene Stände, Konfessionen, Moralvorstellungen und Überzeugungen auf einem Terrain zusammenwürfeln, das aber dem Ansturm nicht gewachsen ist. Der Hofprediger, indem er auf die Unterschiede zwischen Katholizismus und Protestantismus in der Vergebung oder Linderung moralischer Schuld hinweist, bestätigt die theologische Möglichkeit der Wiederversöhnung nach der Verfehlung in beiden Konfessionen: durch Beichte und Buße im Katholizismus, durch »den rechten Glauben« im Protestantismus(259). Die Abwesenheit der Gewissheit von Schuldlinderung in einer post-religiösen Gesellschaft der unbarmherzigen Normen, Etikette und Äußerlichkeiten kreiert das Grauen eines Verfemtseins, das sich nicht wie eine moralische Last durch theologisch anerkannte Verfahren bewältigen lässt. Für die in C é cile verhandelte Problematik erscheint die religiöse Bedeutung von Demut(Unterwerfung unter Gottes Gesetz) und Hochmut(Hinwegsetzen über Gottes Gesetz oder Selbstermächtigung zum eigenen Gesetz) kaum relevant; 11 subkutane Stimmungen, ja nicht einmal kodifiziertes Recht oder explizite Anfeindungen, sondern schwammige Vorstellungen von angemessenem und konformem Verhalten scheinen die Stelle als Gradmesser eingenommen zu haben, an dem Unterwerfung und Überhebung gemessen werden. Eine andere Instanz scheint sich in die Position dieser Leerstelle geschoben zu haben, für die, wie die Rede von einer»Welt der Gegensätze« und von Treue zur Welt andeutet, der Kollektivbegriff der»Welt«(168) als Chif-
Heft
(2017) 104
Seite
37
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