38 Fontane Blätter 104 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte fre für das nicht Fassbare der(in des Hofpredigers Worten)»Menschen«Gemeinschaft herhalten muss, oder genauer:»die Welt, der Anstand, die Sitte«(161). Immer wieder berufen sich Figuren und Erzähler auf»Schicklichkeit«(175),»das allein Dienliche wie das allein Ziemliche«(267),»Geschmack und gute Sitte«(182), die einerseits Kriterien der»gesellschaftlichen Scheidungen«(315) sein sollen, Hilfe bei Ermessensfragen und solchen, die Ermessen übersteigen, und andererseits das informelle Pendant zu»Rubrik und Schablone«(229) abgeben, welche auf offizieller Ebene das menschliche Miteinander organisieren. Es ist durchaus auffallend, dass diese auch oft zweigliedrigen Aufzählungen nicht paradox oder widersprüchlich angelegt sind, sondern kumulativ und stützend fungieren. Dieser dergestalt dicht beschriebenen Instanz fällt augenscheinlich die Definitionsmacht dafür zu, was zwischen Demut und Hochmut angesiedelt ist, denn um sich in diesem Feld zu behaupten wird die Eigenschaft des Mutes empfohlen, den das Wortspiel als Drittes zwischen seine beiden Komposita platziert, wobei allerdings semantisch diese Platzzuweisung ebenso fraglich bleibt wie die ephemere Schnittmenge der anderen dualistischen Definitionen. Von Beginn an ist das Umspielen der unerbittlichen Autorität der »Welt« verbunden mit einer Diskussion um Mitte, Ausgleich und Maß. So werden»Bemerkungen, die zwischen Ernst und Scherz die Mitte hielten«, anfangs als Konversationsideal gepriesen(169); aber wenn die Doppelformel das nächste Mal auftaucht(309), ist die Brüchigkeit dieses Konstrukts längst erwiesen, das Einnehmen von Mittellinien in prekären Konstellationen als Unmöglichkeit entlarvt, will man sich nicht»Durchschnittsfiguren«(152) anvertrauen. Auch die Maxime,»das eine zu tun und das andere nicht zu lassen«(198), bringt das Orientierungs-Dilemma keiner Lösung näher. Und Céciles Ratschlag an die Tochter Rodensteins:»In einer guten Ehe muß sich alles ausgleichen und balancieren, und der eine hilft dem anderen heraus«(226) desavouiert sich durch die Sprecherin selbst, da sich ihre eigene Ehe zwar vielleicht in einer Art Gleichgewicht befindet, allerdings in einer zutiefst prekären und belastenden Balance. Gordons bereits zitiertes Relativismusplädoyer»Alles verträgt sich[...]«(293) erscheint insofern als zynisch, als es ihm die Rechtfertigung zu seiner selbstgefälligen Übergriffigkeit gegenüber Cécile liefert. Die Idee der Mitte bleibt dergestalt schmerzhaft vage, ungefüllt – besonders insofern sie nicht den Extremen zugeordnet ist, sondern von ihnen emanzipiert gedacht werden soll, also isoliert existiert, sich der Verortung in einer Schnittmenge entzieht – oder von den Extremen erdrückt wird. In der Logik des Erzählverfahrens bleibt»Mut« mithin eine prinzipielle Unmöglichkeit, denn»Mut« soll Bewährung in einer»Welt« ermöglichen, die sich aber gar nicht fassen lässt. Und»Mut« ist als Dazwischen auf einer Achse von Extremen angesiedelt, die recht eigentlich gar keine Ausdehnung hat, da sich die Abgrenzungs-
Heft
(2017) 104
Seite
38
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