Heft 
(2017) 104
Seite
40
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40 Fontane Blätter 104 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte ­Gegensätzlichkeit der Positionen: Gerade die Anwesenheit der Sprecher im gesellschaftlich zwielichtigen St. Arnaudschen Haus lässt beider Auslas­sungen die Kritik an einem gebildeten Soldatentum und die Schmähung einer weichen Gangart gegenüber dem Katholizismus im neuen Reich als Plädoyer für Homogenes, Gewachsenes, Selbstverständliches und Organi­sches verständlich werden, als Reaktion auf einen wahrgenommenen Mangel in der tatsächlich existierenden Gesellschaft der Zeit als deren Symptom die Lage der St. Arnauds gelten kann. Am prononciertesten wird das Begriffs- und Bedeutungsfeld aller­dings in zwei weiteren Episoden thematisiert. Die erste betrifft den pensi­onierten Dorfschulmeister Rodenstein. Zu dessen Aufgaben als Präzeptor, berichtet der Emeritus, habe das Verlesen des Evangeliums gehört. Wegen der vergessenen Brille einmal zum Improvisieren gezwungen, habe er die­se Praxis später beibehalten,»alle Bücher zu Hause[ge]lassen und von der Kanzel herab aus dem Stegreife« gesprochen, also gepredigt: Er»tat den Präzeptor ab und zog den Pastor an« bis ihm der»Dünkel«, die»Eitelkeit und Vermessenheit«,»Unrecht«,»Übergriff und Ungesetzlichkeit«(199 f.) seines Handelns zu Bewusstsein gekommen seien. Das Konsistorium habe allerdings, da die Kirche voll und die Gemeinde so andächtig wie nie zuvor gewesen sei, sein Handeln sanktioniert, doch aus einem persönlichen, in­dividuellen Gefühl von Rechtschaffenheit, Angemessenheit und dem ihm zustehenden Platz habe er seinen Abschied genommen. Erfolg rechtfertige keine Anmaßung, so ist die Anekdote wohl intendiert. Wenig später er­gänzt der Präzeptor selbst diese Geste der Selbstbescheidung gegen die normensetzende»Welt« um eine alternative Erklärung, die allerdings ebenso das Verhältnis von»Bescheidenheit« und»Dünkel« zum Thema hat (228): Er sei frühzeitig aus dem Dienst ausgeschieden, um sich einer Jubi­läumsehrung nach»Rubrik und Schablone«, also ohne Würdigung seiner nicht nach Dienstjahren zu bemessenden Leistung zu entziehen:»Und da hab´ ich demissioniert und dem Affen meiner Eitelkeit sein Zuckerbrot ge­geben«, er hat mithin»sich und sein eigen Bewußtsein« über die Kon­ventionen seines öffentlichen Standes gesetzt. St. Arnauds Lob:»Das heißt nicht, sich überheben, das heißt bloß die Rechnung in Richtigkeit bringen« (229), stellt erneut die Frage nach den Maßstäben, dem Spielraum für Auto­nomie und der moralischen Bewertung der verschiedenen Optionen. An­passung steht im Verdacht der Demut, Eigenständigkeit im Verdacht des Hochmuts Selbstbestimmung setzt sich in jedem Fall(also freiwilliger Un­terwerfung unter wie gezielten Hinwegsetzens über gesellschaftliche Re­geln) dem Verdacht der Transgression aus. Als Mut wird dieses Verhalten jedenfalls nirgends gewürdigt. Das geöffnete Fenster eines Eisenbahnwagons gibt Anlass zu einer wei­teren Veranschaulichung des Dualismus von De- und Hochmut. Hier han­delt es sich um einen Monolog Gordons über»Ventilationsenthusiasten«