56 Fontane Blätter 104 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Dubslavs. Der Erzähler präsentiert zugleich in seiner Rede eine dreifache Figurencharakterisierung. Dubslav wird als eine Figur dargestellt, der die Beziehungsstrukturen der ihn umgebenden Gesellschaft bekannt sind (vgl. 218). Gleichzeitig werden Ermyntrud und Wladimir erneut durch ihre kinderreiche Ehegemeinschaft charakterisiert. Die figurale Benennung verweist auf Ermyntruds ausgeprägtes Pflichtbewusstsein. Pflicht erscheint in ironischer Wendung als Ermyntruds Lebensmaxime, diese gewinnt an Dominanz und es zeigt sich, dass sich Wladimir dieser zu beugen hat. Auffallend ist, dass Ermyntrud trotz ihrer Abwesenheit wieder präsent ist. Gleichzeitig sind die Figuren zusammen mit ihrer facettenreichen Darstellung und unterschiedlichen Perspektivierung auf gewisse Hauptmerkmale reduziert. Einige Figuren des Romans, wie Adelheid, werden so im Erzählverlauf zu Stereotypen, die das stagnierte Preußentum repräsentieren. Eine Anspielung auf die bevorstehende Wahlniederlage findet sich noch unmittelbar vor den Wahlergebnissen: »Der See plätscherte leis.[…] Ein paar der Herren, unter ihnen auch Dubslav, schritten die ziemlich wacklige Bretterlage hinunter[…] Dubslav sagte: ›Meine Herren, ich meinerseits schlage vor, daß wir unsern Auslug von dem Wackelstege, drauf wir hier stehen(jeden Augenblick kann einer von uns ins Wasser fallen), endlich aufgeben und uns lieber in einem der hier herum liegenden Kähne über den See setzen lassen‹«(220 f.). Das Aufkommen der Sozialdemokratie als revolutionäre Tendenz wird im Erzähltext wiederholt durch Raumschilderungen gewisser Schieflagen und wackliger Gegenstände anzitiert(vgl. 14, 51, 53 f., 110, 291). Der vorliegenden Textpassage kommt mit ihrer proleptischen Funktion ein latent narratorialer Beiklang zu. Im weiteren Verlauf des Wahltages widmet sich der Erzähler noch einmal der Figur Wladimir:»Sonderbarerweise hatte sich auch Katzler hier niedergelassen(er sehnte sich wohl nach Eindrücken, die jenseits aller ›Pflicht‹ lagen), und neben ihm, was beinahe noch mehr überraschen konnte, saß von der Nonne«(230). Die figurale Benennung in der Klammer birgt den Einschub des Figurentextes Ermyntruds und referiert auf ihre Rede aus dem 18. Kapitel, die sich zu Wladimirs Leidwesen wieder dem Thema der ›Pflicht‹ widmet: »›Worauf es ankommt, das ist Erfüllung unsrer Pflicht.‹ Katzler, als er dies Wort hörte, sah sich nach einem Etwas um, das ihn in den Stand gesetzt hätte, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben«(209). Die in der Klammer ausgestellte Zweistimmigkeit der Passage besteht in der Simultanität von Figurentext und Erzählertext. Auch die Erzählerrede ist zweistimmig, da sie sich an dem Sprachduktus Dubslavs orientiert(vgl. auch 434). Hervorgehoben wird auf diese Weise die ironische Perspektivierung des Ehepaars. Denn während Wladimir trotz seiner Anwesenheit nicht zu Wort kommt, ertönt Ermyntruds Figurentext wiederholt in der Erzähler-
Heft
(2017) 104
Seite
56
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